Hartmut Krauss

 

Das frustrierte Begehren nach Verharmlosung

Oder: Wenn doch herauskommt, was politisch eigentlich nicht erwünscht ist

Eine kritische Betrachtung der regierungsamtlichen Auftragsstudien über Muslime im Allgemeinen und der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ im Besonderen

 

Wissenschaftliche Auftragnehmer von empirischen Studien über Muslime in Deutschland müssen tiefenideologisch heute etwa so „tätowiert“ sein, wenn sie eine Chance auf Berücksichtigung haben wollen:

„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen“ (Goethe, o. J., S. 578). So lautet das Geleitwort der Autoren von Kapitel 3 der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ (Bundesministerium des Inneren 2011, S. 106), das sich bereits wie ein unverhohlenes Rezeptionsdiktat für die Öffentlichkeit liest(1).

„Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt“ möchte man daraufhin mit Thomas Mann auf dieses Postulat einer ungeprüften „Willkommenskultur“ antworten, das die einheimische Bevölkerung zur passiven Akzeptanz, ja freudigen Anerkennung einer vormodernen religiösen Herrschaftsideologie aufruft bzw. zur Unterlassung aller kritischen Äußerungen und Handlungen auffordert, die ultrakonservative und radikale Muslime nur unnötig provozieren könnten.

 

Auffällig ist, dass bereits eine sehr hohe Zahl von Studien über muslimische Zuwanderer vorliegt, was in keinem Verhältnis zur vergleichsweise sehr geringen Zahl von Untersuchungen über nichtmuslimische Zuwanderergruppen steht - auch wenn diese, wie zum Beispiel „Spätaussiedler“ oder ehemalige Arbeitsmigranten aus südeuropäischen Ländern, eine ähnlich umfangreiche Gruppe darstellen.

 

Diese „positive Diskriminierung“ der Muslime bzw. Abwertung der übrigen Zuwanderer mit anderen weltanschaulichen Grundüberzeugungen und Sozialisationshintergründen manifestiert sich auch in der Einrichtung einer Deutschen Islamkonferenz. Demgegenüber gibt es keine Deutsche Konferenz für Atheisten, Hindus, Buddhisten und nicht zuletzt für Ex-Muslime. Eine gute und faire Integrationspolitik sieht anders aus.

 

Der eigentliche Ursachenkern für die Fokussierung auf Muslime liegt in dem Tatbestand begründet, dass Personen mit einem islamischen Sozialisationshintergrund auf allen relevanten Ebenen die schlechtesten Integrationswerte aufweisen. Um diese Faktenlage möglichst „klein“ zu arbeiten bzw. „politisch korrekt“ zu vernebeln, hat sich in Politik, Medien und Wissenschaft ein postdemokratisches Meinungskartell etabliert, das sich um folgende Grunddogmen gruppiert:

1.) „Das hat doch alles nichts mit dem Islam zu tun.“ 2.) Schuld an der Integrationsmisere ist die systematisch und vorsätzlich „benachteiligende“ deutsche Gesellschaft. 3.) Die autoritären, islamisch-patriarchalischen Sozialisationsmilieus werden als unbeeinflussbare, schicksalhaft hinzunehmende Naturkonstanten verdinglicht und die Integrationsrichtung einfach ins Gegenteil verkehrt: Die einheimische Gesellschaft soll sich gefälligst an die orthodoxen Muslime mit ihren vormodernen Einstellungen und Verhaltensweisen anpassen. Auch aus diesen Gründen jagt eine Muslim-Studie die nächste - immer darauf bedacht, endlich den Beweis für die herbeigesehnte Harmlosigkeit und Integrationsfreudigkeit dieser Gruppe zu liefern.

 

Was aber ist überhaupt ‚Integration’? In gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive bezeichnet der Begriff ‚Integration’ den mehrdimensionalen Prozess der Eingliederung von Zuwanderern in das konkrete, nationalstaatlich geregelte und kulturhistorisch gewachsene Gesellschaftssystem des Aufnahmelandes mit seinen spezifischen (z. B. sprachlichen, qualifikatorischen, normativen etc.) Anforderungsstrukturen. Im Einzelnen sind dann folgende Hauptdimensionen des komplexen Integrationsprozesses zu unterscheiden:

  1. Politisch-rechtliche Integration (Staatsbürgerschaft, Klärung des Rechtsstatus des Einwanderers als Voraussetzung für die Wahrnehmung von Integrationsmöglichkeiten)
  2. Sprachintegration (Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes als elementare Voraussetzung individueller Teilhabe am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess)
  3. Sozialökonomische Integration (berufliche Eingliederung in das System der Erwerbsarbeit)
  4. Soziokulturelle Integration (akzeptierende Aneignung der verfassungsmäßigen Grundwerte und Rechtsnormen des Aufnahmelandes einschließlich bestimmter Kenntnisse über deren kulturhistorische Gewordenheit. Zu verarbeiten sind in diesen Kontext auch die möglichen interkulturellen Gegensätze und Divergenzen zwischen der Normativität der Herkunftskultur und der Normativität Aufnahmelandes).
  5. Lebensweltliche Integration (Einbindung in das Gemeinschaftsleben des Aufnahmelandes; Abschmelzen der herkunftskulturellen Identitäten - subjektiv positiv erlebte ‚Assimilation’).

 

Trotz des politisch gewollten Fehlens einer transparenten Statistik, die den jeweiligen bereichsspezifischen Anteil von Muslimen ausweist (zum Beispiel Arbeitslosenstatistik, Kriminalstatistik, Schulabbrecherstatistik etc.), sowie des ebenfalls politisch gewollten „Abmilderns“ von unhintergehbaren Tatbeständen sind doch folgende Desintegrationssymptome ans Licht gekommen, die im Folgenden nur unvollständig und exemplarisch anhand weniger Daten (2) dargestellt werden können:

 

(1) „Die Gruppe der hier geborenen fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler mit Eltern aus der Türkei ist (…) offenbar als eine Gruppe einzuschätzen, für deren soziale und wirtschaftliche Zukunft eine unzureichende Grundlage besteht. Nur eine Minderheit von ihnen spricht im Alltag überwiegend deutsch und ihre mit fünfzehn Jahren erreichten Kompetenzen liegen im Durchschnitt auf einem niedrigen Niveau. Dieser Befund ist alarmierend, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass diese Jugendlichen bereits in Deutschland geboren sind, ihre gesamte Schulzeit in Deutschland verbracht haben und diese Gruppe einen relativ großen Anteil an der Bevölkerung aufweist“ (PISA 2003, S. 294).

Daraus erklärt sich u. a. auch die hohe Rate von 56,1 Prozent türkischstämmigen Jugendlichen, die entweder über keinerlei Schulabschluss verfügen oder einen Hauptschulabschluss erreichen, jedoch keine berufliche Ausbildung beenden.

Der sich tendenziell erhöhende Anteil von lernschwachen und fehl- bzw. defizitär sozialisierten Schülerinnen und Schülern aus den benannten Kerngruppen von Zuwanderern ist ein wesentlicher Faktor, der zur Absenkung des durchschnittlichen Leistungsniveau der Gesamtschülerschaft bzw. des Bildungsnachwuchses führt.

 

(2) Schon seit einem längeren Zeitraum liegt die Arbeitslosenquote der Ausländer (nur nach Staatsangehörigkeit betrachtet, d. h. ohne Spätaussiedler und Eingebürgerte) ca. doppelt so hoch wie bei den Deutschen. „Während bei den Deutschen und den Zuwanderern aus den EU-Staaten weit über 60% einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, sind dies bei den Zuwanderern aus der Türkei nur rund 45%“ (Reißlandt 2005, S. 5). Lag die Erwerbstätigenquote bei den Einheimischen/Deutschen 2006 um ca. 5%-Punkte über der des Jahres 1982, so war sie bei den Ausländern insgesamt und bei den Türken um 12%- bzw. 15%-Punkte zurückgegangen. Der 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Juni 2010, S. 126) hält fest: „Während nur 15 % der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund im Alter von 20 bis 64 Jahren keinen beruflichen Abschluss haben, gilt dies für 44% der Befragten mit Migrationshintergrund. Am höchsten liegt der Anteil der Unqualifizierten mit 72% bei den in Deutschland lebenden Menschen türkischer Herkunft, von denen fast jede/r Fünfte (18,2%) Deutsche/r ist.“

 

(3) Jenseits abstrakter theologischer und philologischer Debatten fungiert der Islam als spezifische Form einer alltagswirksamen religiösen Legitimationsideologie autoritär-patriarchalischer Verhältnisse. So sind insbesondere die stark religiösen muslimischen Jugendlichen in hohem Maße von massiver elterlicher Gewalt betroffen waren. „Tendenziell lässt sich für die muslimischen Jugendlichen ein Anstieg der Viktimisierung durch innerfamiliäre Gewalt mit Zunahme ihrer Religiosität feststellen. (…) Im Vergleich zu einheimisch-christlichen Jugendlichen ist das Risiko einer elterlichen Misshandlung bei muslimischen Jugendlichen etwa 4,8fach höher“ (Brettfeld/Wetzels 2004, S. 281/282). In einer neuen Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen (Forschungsbericht Nr. 109) wird als wesentliches empirisches Forschungsergebnis festgestellt, dass Jugendliche mit islamischem Sozialisationshintergrund um so schlechter integriert sind und um so stärker zu Gewaltausübung tendieren, je höher die Bindung an die islamischen Weltanschauungsinhalte und Normen ausgeprägt ist. „Mit wachsender religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft der jungen Muslime tendenziell an“ (Baier u. a. 2010, S. 127).

Gewaltanwendung als Instrument zur Herbeiführung von islamgerechtem Gehorsam ist demnach nicht nur ein legitimes, sondern ein strategisch zentrales Mittel. Den Anlass hierfür bilden oftmals die Werte und Einflüsse der deutschen Aufnahmegesellschaft, die als schädliche Bedrohung der eigenen vormodern-traditionalistischen (islamischen) Lebensweise angesehen werden. „Um die Kinder vor diesen ‚schädlichen’ Einflüssen zu schützen, ist es legitim, Gewalt anzuwenden.“ (Toprak 2007 S. 138). Dabei gelangt eine ganze Palette von Gewaltmaßnahmen zur Anwendung. „Schwere körperliche Misshandlung in Form von Ohrfeigen, Faustschlägen, Tritten und Einsperren wird flankiert vom Entzug der Grundnahrungsmittel und der Verweigerung von Grundbedürfnissen, wie zum Beispiel Toilettengang oder Waschen“ (ebenda) (3).

 

Einige Autoren trauen sich, die stärkere Gewaltbelastung in orthodox-islamischen Familien nicht ausschließlich auf angeblich allein und isoliert wirksame soziale Faktoren zu reduzieren und damit den Einfluss islamisch begründeter Normen apologetisch auszublenden:

„Eine Erklärung alleine damit, dass sich die sozialen Lebenslagen erheblich unterscheiden, dass vor allem junge Muslime erheblich größere soziale Nachteile zu gewärtigen haben, ist hingegen unzureichend. Vielmehr ist das elterliche Erziehungsverhalten innerhalb der verschiedenen religiösen Gruppierungen deutlich unterschiedlich und hat eigenständige Effekte auf die Einstellungen der Jugendlichen sowohl zu Geschlechtsrollenorientierung als auch zu Gewalt“ (Brettfeld/Wetzels 2004, S. 295).

In der Studie von Baier u. a. (2010) wird gleichfalls festgestellt, dass im Vergleich zu nichtmuslimischen Gruppen die islamischen Migranten „auch dann noch häufiger Gewalttäter (sind), wenn ihre durchschnittlich schlechtere Schulintegration sowie ihre häufigere Abhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen berücksichtigt wird“ (ebenda, S.116).

 

Wir hatten bereits sehr klar hervorgehoben, dass die simplifizierende Rede von der „sozialen Benachteilung“, die obendrein als ideologisches Abwehr- und Ablenkungsinstrument eingesetzt wird, den wissenschaftlich-analytischen Blick auf die reale Komplexität der Problemlage verstellt:

„Kinder aus Zuwandererfamilien, deren Eltern (a) aus der Unterschicht stammen, (b) einen niedrigen Bildungsstatus und eine geringe Bildungsorientierung aufweisen, (c) gemäß religiös-autoritären („prämodernen“) Prinzipien erziehen und (d) kaum oder nur schlecht Deutsch sprechen, sind sozialisatorisch so negativ konditioniert, dass die bereits in der vorschulischen Entwicklung angehäuften und später weiterwirkenden Entwicklungsnachteile durch die Bildungsinstitutionen mitunter noch abgeschwächt, aber nicht mehr kompensiert werden können. Es ist also nicht die soziale Unterschichtzugehörigkeit ‚an sich’, sondern die eigentümliche Verflechtung von sozialen, sprachlichen und kulturellen Einflussfaktoren, die hier negativ zum Tragen kommt“ (Krauss/Vogelpohl 2010, S. 238.) (4)

 

Hervorzuheben ist generell eine stark ausgeprägte und weit verbreitete religiös-autoritäre und emanzipationsfeindliche Bewusstseins- und Verhaltenskonstitution bei islamischen Zuwanderern. So gelangte die bislang noch am wenigsten kaschierte Auftragsstudie „Muslime in Deutschland“ (Bundesministerium des Innern 2007) hinsichtlich des Einstellungsgefüges der islamischen Zuwanderer zu folgendem Ergebnis:

1) „Fundamental orientierte“ Muslime: 40,6%.

2) „Orthodox-religiöse“ Muslime: 21,7%

3) „Traditionell-konservative“ Muslime: 19,0%

4) „Gering religiöse“ Muslime 18,8%.

D. h.: Einem knappen Fünftel von gering religiös orientierten Zuwanderern aus islamischen Staaten steht eine überwältigende Mehrheit von streng-religiösen, traditionell-konservativen und fundamental-orientierten Muslimen entgegen, die in ihren Grundeinstellungen in großen Teilen als pro-islamistisch zu kennzeichnen ist und insgesamt einen starken importierten Block einer „religiös-islamischen Rechten“ darstellt. Der Aussage „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als Demokratie“ stimmen laut dieser Studie 46,7% zu. 33,6% befürworten die Todesstrafe und nach Auffassung von 65,5% der Befragten sollte der Staat Zeitungen und Fernsehen kontrollieren, um Moral und Ordnung sicher zu stellen. 48% wollen an den vielen Kriminellen in Deutschland (zu denen auch viele muslimische Straftäter zählen) sehen können, wohin Demokratie führt.

In der Studie von Heitmeyer/Müller/Schröder (1997, S. 129) stimmten 35,7% der befragten türkischen Jugendlichen folgender Aussage zu: „Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen.“ 24,3% bejahten die Aussage: „Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, andere zu erniedrigen.“ 28,5% reagierten positiv auf die Aussage „Gewalt ist gerechtfertigt, wenn es um die Durchsetzung des islamischen Glaubens geht.“ Und 23,2% stimmten der Aussage zu: „Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten.“ In der schon genannten Studie „Muslime in Deutschland“ (2007) stimmen 33,6% der Befragten der Aussage zu „Die Bedrohung des Islam durch die westliche Welt rechtfertigt, dass Muslime sich mit Gewalt verteidigen“. 21,4% bejahen die Aussage „Gewalt ist gerechtfertigt, wenn es um die Verbreitung und Durchsetzung des Islam geht.“ Und 24,0% äußern Zustimmung zur Vorgabe „Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, körperliche Gewalt anzuwenden“ (S. 319).

 

Dass muslimische Jugendliche signifikant deutlich religiöser, autoritärer und judenfeindlicher geprägt und eingestellt sind als einheimische Jugendliche ist - gerade auch in der Perspektive der zukunftsbezogenen Rechtsextremismusforschung - als ein sehr wesentliches Datum anzusehen: „Bezogen auf antisemitische Vorurteilsbekundungen äußern junge Muslime mit 15,7% die höchste Zustimmung. Bei den Nichtmuslimen mit Migrationshintergrund liegt diese Quote bei 7,4% und bei den einheimischen Jugendlichen bei 5,4%“ (ebenda, S. 275).

 

Die unlängst erschienene neue Auftragsstudie des Bundesministeriums des Innern (BMI) mit dem Titel „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“, erfüllt zwar augenscheinlich die formalen Anforderungen einer repräsentativen empirischen Studie und beeindruckt zunächst durch ihren mehrdimensionalen Untersuchungshorizont, weist aber bei genauerer Betrachtung ebenso zentrale wie entscheidende konzeptionelle Mängel auf. Zudem werden die Ergebnisse sehr unübersichtlich und zum Teil irreführend dargestellt. Im Endeffekt wird trotz großem Aufwand mit ebenso umständlichen wie langatmigen Auslassungen ein längst bekanntes Forschungsresultat vorgelegt, das mit den herkömmlichen (politisch erwünschten) Relativierungen und Abschwächungen a posteriori versehen wird.

Als ein zentrales Ergebnis der Studie wird festgestellt, dass 48,1 Prozent der befragten „nichtdeutschen Muslime“ starke Separationsneigungen aufweisen, d. h. darauf ausgerichtet sind, die (islamische) Herkunftskultur zu bewahren, „und eine sehr geringe Neigung, die deutsche Kultur zu übernehmen“ (S. 609). Bei der Gruppe der befragten „deutschen Muslime“ umfasst diese Teilgruppe mit starken Separationsneigungen 21,7%.

Völlig im Dunklen bleibt hierbei, was die Autoren unter „deutscher Kultur“ verstanden wissen wollen und was die muslimischen Probanden denn konkret darunter verstehen: (a) Die Grundprinzipien der säkularen Moderne, (b) die Grund- und Menschenrechte, (c) das deutsche Strafgesetzbuch, (d) das deutsche Sozialsystem, (e) die deutsche Esskultur, (f) die primäre Identifikation mit der deutschen Fußballnationalmannschaft etc.? Möglich wäre ja immerhin, dass sich die Befürwortung der Übernahme der deutschen Kultur nur auf c, d, und f beziehen könnte, aber nicht auf a, b und e.

Nicht nur fragwürdig, sondern m. E. unhaltbar ist der dieser Studie zugrunde liegende subjektivistische bzw. psychologisierende Integrationsbegriff, der die objektiv feststellbaren Aspekte/Indikatoren der Eingliederung in ein Gesellschaftssystem ebenso ausblendet wie die inhaltliche Analyse des Konvergenz-Divergenz-Verhältnisses zwischen herkunftskultureller (traditioneller) Normativität und aufnahmengesellschaftlicher (moderner) Normativität (soziokulturelle Vergleichsanalyse).

So verstehen die Autoren in Anlehnung an den Ansatz von John Berry(5) „unter Integration ein Beibehalten der traditionellen Herkunftskultur bei einem gleichzeitigen Übernehmen der neuen Mehrheitskultur“ (S. 595f.). Was heißt aber nun genau „Beibehalten der traditionellen Herkunftskultur bei gleichzeitigem Übernehmen der neuen Mehrheitskultur“, wenn beide Kulturen stark divergieren, sich normativ widersprüchlich bis gegensätzlich zu einander verhalten und sich weitgehend wechselseitig negieren? Würde man dieser Fragestellung untersuchungsmethodisch wirklich nachgehen wollen, dann müsste man die objektiven kulturellen Bedeutungsdiskrepanzen fokussieren und die Probanden mit wertekonflikthaltigen Aussagen konfrontieren, um die subjektiven Widerspruchsverarbeitungsformen und Einstellungen gegenüber den objektiven Bedeutungswidersprüchen zu ermitteln. Ansonsten verharrt man unkritisch auf der Erscheinungsoberfläche subjektiver Wunschvorstellungen bzw. verzerrender (widerspruchseliminierender) Sichtweisen und Intentionen (6).

Vor diesem Hintergrund ist es auf jeden Fall äußerst fragwürdig, wenn im Hinblick auf ihre subjektiven Intentionen widersprüchlich strukturierte Gruppen von Muslimen, die „auf dem Bewahren der Herkunftskultur bestehen, aber auch deutlich die Übernahme der deutschen Kultur befürworten“, unter der Hand zu „Muslimen mit überwiegenden Integrationsneigungen“ stilisiert werden. Das läuft weniger auf wissenschaftliche Aufklärung als vielmehr auf politisch erwünschte Problemverharmlosung und untersuchungsmethodisch erkünstelte Problemverkleinerung hinaus. Verdunkelt wird so auch das eigentlich katastrophale, wenn auch von den Autoren nicht explizierte Ergebnis der Studie: 52,3% der befragten deutschen Muslime und 75,9% der befragten nichtdeutschen Muslime bestehen in starkem Ausmaß auf dem Bewahren der traditionellen Herkunftskultur. Wie dieses (orthodox-islamisch grundierte) starke Interesse an der Bewahrung der traditionellen Herkunftskultur mit der Übernahme der deutschen Kultur in Übereinstimmung gebracht werden soll, bleibt theoretisch das Mysterium der deutschen Auftragswissenschaft und praktisch der noch nicht einmal im Ansatz entschärfte Sprengsatz der deutschen Integrationspolitik.

 

Dennoch kommt auch diese Studie nicht umhin, folgende bekannten Erkenntnisse zu bestätigen: Die untersuchten 14- bis 32-jährigen „muslimischen Immigranten aus arabisch- und türkischsprachigen Ländern (differenziert nach eigener geografischer Herkunft und der Herkunft der Eltern, nach Aufenthaltsdauer, nach traditionellen und fundamentalistischen religiösen Orientierungen, Bildung und Integrationsgrad) und muslimischen Deutschen (differenziert unter anderem nach traditionellen und fundamentalistischen religiösen Orientierungen, Konvertiten und Nichtkonvertiten, Bildung)“ (S. 38), lassen ein deutlich stärker ausgeprägtes autoritäres Einstellungsprofil erkennen als die deutschen Nichtmuslime.

„Deutlich sind die wesentlich stärker ausgeprägten autoritären Einstellungen der Muslime gegenüber denen der Nichtmuslime. Dass aber mehr als 50 Prozent der nichtdeutschen Muslime den autoritären Aussagen auf der entsprechenden Skala zustimmen, dürfte besonders bemerkenswert sein.“ (S.172).

Hervorhebenswert ist auch folgendes Ergebnis: „Innerhalb der Muslime fanden sich bei Betrachtung verschiedener Herkunftsregionen (zum Beispiel Türkei, Balkan) und auch bei Betrachtung verschiedener Glaubensrichtungen (zum Beispiel Schiiten, Sunniten) keine Unterschiede in den Mittelwerten autoritärer Einstellungen.“ (S. 176) Dieser Befund spricht deutlich gegen das stereotype Abwehrideologem, den Islam (in seiner orthodox-dogmatischen Grundgestalt) gäbe es nicht bzw. der Islam zerfalle in unterunterschiedlichste, im Grunde  inkommensurable, länderspezifische und konfessionelle Varianten. (7)

 

Darüber hinaus weisen die untersuchten Muslime u. a. deutlich höhere Werte im Hinblick auf „religiösen Fundamentalismus“ und „Demokratiedistanz“ auf und zeigen insgesamt signifikant größere „Vorurteile gegenüber Juden“ als deutsche Nichtmuslime. Eine relevante Rolle bei der Generierung und Stabilisierung religiös-autoritärer, fundamentalistischer, demokratiedistanter etc. Einstellungen spielen auch die Rezeption türkischer und arabischer Medien und die Teilnahme an islamischen Internetforen.

Dass die befragte Gruppe gegenüber nichtmuslimischen Interviewern keine oder kaum Sympathien für islamische Terroristen kundtun und auch ansonsten relative Zurückhaltung im Hinblick auf explizite Gewaltbefürwortung erkennen lassen, ist wenig überraschend. Auffällig ist in Bezug auf den islamischen Terrorismus zudem, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten angesichts des global virulenten Terrors mit einer Vielzahl muslimischer Tätergruppen zwar die „Vermischung von Islam und Terrorismus durch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft“ moniert, aber andererseits „bezüglich des Konflikts zwischen Akteuren der westlichen Welt und extremistisch-terroristischen Gruppierungen oft nur wenig Wissen und Interesse“ (S. 605) besitzt.

Von wesentlicher Bedeutung ist demgegenüber die hohe Zustimmungsrate zur Aussage: „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe“. Erst über eine ausführliche Explikation und Fokussierung der Beziehung dieses Items zur subjektiv geäußerten Absicht, die „deutsche Kultur“ übernehmen zu wollen, ließe sich eine dem Problemgegenstand angemessene Auswertung der Befragungsergebnisse erzielen, was die Autoren freilich unterlassen. Insgesamt konstatieren sie aber, „dass die deutschen Nichtmuslime bei einem Großteil der Indikatoren weniger vorurteilsbehaftet und weniger negativ eingestellt sind als die sich häufig nicht unterscheidenden beiden Muslimgruppen.“ (S. 271).

 

Unabhängig von den doch sehr künstlich erscheinenden, recht willkürlich anmutenden und nur schwer nachvollziehbaren Clusterbildungen der Autoren lässt die Untersuchung insgesamt  - im Einklang mit bereits zuvor erschienenen Studien und im Gegensatz zu den Intentionen von Auftraggebern und Auftragnehmern - ein beträchtliches religiös-autoritäres, reaktionäres, judenfeindliches und antiwestliches Einstellungspotenzial innerhalb der wachsenden Gruppe junger Muslime erkennen. Ob und wie darauf reagiert wird, ist abhängig von der zukünftigen Gestaltung der politischen Kräfteverhältnisse. Dabei haben die einheimischen Nichtmuslime folgende Wahlmöglichkeiten:

1) Sie verharren gegenüber der vorherrschenden proislamischen Verharmlosungs- und Duldungspolitik in passiver Gleichgültigkeit oder gar aktiver Unterstützung.

2) Sie schließen sich - im Kontext von zunehmendem Wutstau, Verzweiflung und fehlenden Alternativen - den rechten fremdenfeindlichen Ausbeutern der verworrenen Islamdebatte an (8). Oder:

3) Sie beteiligen sich am Aufbau und der Unterstützung einer progressiven Alternative, die dem orthodoxen Islam, seinen Akteuren und Vasallen vom Standpunkt eines emanzipatorisch-menschenrechtlichen Aufklärungshumanismus offensiv entgegentritt.

 

 

 

Literaturverzeichnis:

 

Baier, Dirk, Pfeiffer, Christian, Rabold, Susann, Simonson, Julia, Kappes, Cathleen: Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum. Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesinnenministeriums des Innern und des KFN. Forschungsbericht Nr. 109. Hannover 2010.

 

Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.): 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. Juni 2010.

 

Brettfeld, Katrin; Wetzels, Peter: Junge Muslime in Deutschland: Eine kriminologische Analyse zur Alltagsrelevanz von Religion und Zusammenhängen von individueller Religiosität mit Gewalterfahrungen, -einstellungen und -handeln. In: Islamismus. Texte zur inneren Sicherheit. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern. 2. Aufl. Berlin 2004.

 

Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen. Autoren: Katrin Brettfeld und Peter Wetzels unter Mitarbeit von Ramzan Inci, Sarah Dürr, Jan Kolberg, Malte Kröger, Michael Wehsack, Tobias Block und Bora Üstünel. Hamburg, Juli 2007.

 

Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Abschlussbericht von W. Frindte, K. Boehnke, H. Kreikenbom, W. Wagner. Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland. Berlin 2011.

 

Heitmeyer, Wilhelm/Müller, Joachim/Schröder, Helmut: Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt am Main 1997.

 

Krauss, Hartmut: Islam, Islamismus, muslimische Gegengesellschaft. Eine kritische Bestandsaufnahme. Osnabrück 2008.

 

Krauss, Hartmut: Kritische Islamanalyse zwischen öffentlcher Diskursverwirrung und apologetischer Diffamierungsoffensive. Eine grundsätzliche Stellungnahme jenseits fremdenfeindlicher Problemausbeutung und reaktionärer Islamophilie. In: Krauss, Hartmut (Hrsg.): Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden. Osnabrück 2010. S. 39-100.

 

Krauss, Hartmut; Vogelpohl, Karin: Spätkapitalistische Gesellschaft und orthodoxer Islam. Zur Realität eines Desintegrationsverhältnisses jenseits von Verdrängung, Verschleierung und Bewältigungsromantik. In: Krauss, Hartmut (Hrsg.): Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden. Osnabrück 2010. S. 217-262.

 

PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland - Was wissen und können Jugendliche? Münster, New York 2005.

 

Reißlandt, Carolin: Integration und Arbeitsmarkt. www.bpb.de/themen/544H4S.html

 

Toprak, Ahmet: Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Freiburg im Breisgau 2007, 2. Auflage.

 

 

1. Als der Bundesinnenminister die Ergebnisse der Studie zunächst als Alarmzeichen betrachtete, bereitete das den Autoren, offenkundig darauf bedacht, die Muslime möglichst in ein positives Licht zu rücken, gleich Niedergeschlagenheit und schlaflose Nächte. Vgl. DER SPIEGEL Nr. 10 vom 5.3.2001, S. 18.

 

2. Zahlreiche weitere kritisch reflektierte und theoretisch eingeordnete Daten und Fakten finden sich in Krauss 2008 und Krauss/Vogelpohl 2010.

 

3. Häufigeres, auch präventives Schlagen der Frauen wird von Topraks Interviewpartnern als legitim und unabdingbar angesehen. Alle Probanden berichten von beobachteter und selbst ausgeübter intrafamilärer Gewalt gemäß der patriarchalisch-hierarchischen Herrschaftsstruktur: Gewalt der Vaters gegen die Mutter und die Kinder, der Söhne gegen die Töchter, der Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter etc. Gewaltausübung spielt somit im orthodox-islamischen Sozialisationskontext eine herausragende Rolle als Mittel der Konfliktlösung und Disziplinierung.

 

4. Die im Rahmen der islamisch-patriarchalisch codierten Primärsozialisation erfahrene Basisbenachteiligung wird von zahlreichen Zuwanderern mit Unterstützung der sozialpädagogischen Migrationsindustrie vermittels einer selbstentlastenden Projektion auf die Aufnahmegesellschaft übertragen und dieser dann kausal angelastet.

 

5. An Stelle einer überzeugenden Argumentation hantieren die Autoren mit einem „Autoritätsbeweis“ und verweisen darauf, wie einflussreich der Ansatz von Berry sei. Einflussreichtum schützt aber nicht vor Unangemessenheit bzw. Unzulänglichkeit, sondern kann auch Ausdruck der unreflektierten Fixierung einer unzulänglichen theoretischen Sichtweise sein.

 

6. Zur individuellen Verarbeitung soziokultureller Widerspruchserfahrung bei jungen Muslimen vgl. Krauss 2008, S. 389-395.

 

7. Zur Kritik der These „Den Islam gibt es nicht“ vgl. Krauss 2010, S. 59f.

 

8. Die von den herrschenden „Meinungsführern“ gewollte Verworrenheit der Islamdebatte besteht darin, dass der Islam als ultrareaktionäre Erscheinung von „links“ - im Einklang mit den kapitalistischen Herrschaftstägern und ihren Medien - verteidigt und von Teilen der „christlich-abendländischen“ Rechten - trotz hoher wertekonservativer Affinität- aus Gründen national- und kulturchauvinistischer „Revierverteidigung“ angegriffen wird. Das macht es der schweigenden Mehrheit schwer, sich eigenständig zu formieren und - entgegen der tradierten politischen Organisationskultur - autonome Handlungsstrukturen aufzubauen.

 


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