Thomas Baader



Islam und Genitalverstümmelung – ein verleugneter Zusammenhang


Ich habe Thilo Sarrazins neuestes Buch (noch) nicht gelesen. Folgerichtig tue ich etwas, was jeder tun sollte, der das Buch nicht gelesen hat: Ich erlaube mir kein Urteil darüber. Interessant ist allerdings eine Betrachtung der Reaktionen in den Medien auf das Erscheinen dieses Buch – erwartungsgemäß handelt es sich hierbei natürlich um Versuche, Sarrazin zu widerlegen. Es lohnt sich ein Blick darauf, mit welchen Argumenten dies geschieht und ob diese letztlich stichhaltig sind. Greifen wir an dieser Stelle einen Teilaspekt heraus, indem wir fragen: Was schreibt Sarrazin zum Thema Genitalverstümmelung, was antworten seine Gegner?

Offenbar, so entnehme ich der Berichterstattung, stellt Sarrazin in seinem Buch einen Zusammenhang zwischen der weiblichen Genitalverstümmelung und dem Islam her. So erfahren wir bei Focus Online:

„Unabhängig von politischen Bewertungen fallen in dem umfangreichen Text mit zahllosen Zitaten und Quellenangaben immer wieder Verallgemeinerungen, Übertreibungen und Unstimmigkeiten auf. So heißt es: ‚In großen Teilen der muslimischen Welt werden die jungen Mädchen beschnitten‘ und ‚Überall in der islamischen Welt können Frauen ihr Kopftuch nicht ablegen, ohne in höchste Gefahr zu geraten‘. Experten widersprechen da vehement, weil Beschneidungen vor allem in bestimmten afrikanischen Ländern ein großes Problem sind und Kopftücher keineswegs überall die Regel.“

https://www.focus.de/politik/deutschland/feindliche-uebernahme-das-steht-in-sarrazins-neuem-skandal-buch_id_9497131.html

Für Focus Online scheint die Sache also klar zu sein: Den von Sarrazin behaupteten Zusammenhang gibt es nicht. Genitalverstümmelung hat, wenn überhaupt, etwas mit Afrika, aber nichts mit Islam zu tun. Eine einfache Recherche (in diesem Fall reicht die englischsprachige Wikipedia) zeigt allerdings, dass Genitalverstümmelung auch in Asien praktiziert wird – in mehrheitlich islamischen Ländern oder aber bei muslimischen Minderheiten in Ländern, die nicht mehrheitlich islamisch sind:

Female genital mutilation Type IV is present in Brunei. [...] Estimates suggest 90% of females in the Ismaili Shia Muslim Bohra community in India undergo FGM [...] Female genital mutilation Type I and IV is prevalent in Indonesia; 97.5% of the surveyed females from Muslim families (Muslim females are at least 85% of females in Indonesia) are mutilated by age 18. In certain communities of Indonesia, mass female circumcision (khitanan massal) ceremony are organized by local Islamic foundations around Prophet Muhammad’s birthday. [...] Female genital mutilation Type I is prevalent in Malaysia, where 93% of females from Muslim families in an unpublished study have been mutilated. It is widely considered as a female sunnah tradition (sunat perempuan), typically in the old days done by midwife (mak bidan) and now by medical physician. [...] Female genital mutilation is practiced in Maldives [....] Religious leaders have renewed their calls for FGM in 2014. [...] Female genital mutilation is practiced among some Pakistani communities, according to sources dated to the 1990s and 2000s. [...] Female genital mutilation is prevalent in parts of the Philippines. The communities that practice FGM call it Pag-Sunnat, sometimes Pag-Islam, and include Tausugs of Mindanao, Yakan of Basilan and other Muslim communities of Philippines. [...] Female genital mutilation is practiced by the Malay Muslim community in Singapore [...] Female genital mutilation is practiced by the Muslim minority in Sri Lanka [...] Female genital mutilation is practised by the Muslim population in the south of Thailand.“

https://en.wikipedia.org/wiki/Prevalence_of_female_genital_mutilation_by_country

Die Debatte ist indes nicht neu, sie wurde auch in anderen Ländern in den letzten Jahren geführt: Als in den USA im Jahr 2015 der atheistische Philosoph und Schriftsteller Sam Harris das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung in den islamischen Ländern thematisieren wollte, behauptete der Religionswissenschaftler Reza Aslan ebenfalls, es handle sich hierbei um ein rein afrikanisches, nicht um ein islamisches Problem. Sam Harris stellte daraufhin auf seiner Website klar (https://samharris.org/never-stop-lying/):

In particular, his claim that female genital mutilation is exclusively an ‚African problem‘ with no connection to Islam, is false. It’s true that FGM predates Islam, and it’s true that certain Christians and animists in Africa also practice it. But no other group inflicts this needless barbarism on girls (which generally has nothing in common with the ‚circumcision‘ of boys) at the rate that Muslims do. And that’s not an accident, because all four schools of Sunni jurisprudence support it. Consequently, there’s no mystery about why hundreds of millions of Muslims believe the practice to be obligatory, or at least permissible. It is spelled out in the hadith with the same care that male circumcision is.“


Tatsächlich finden wir bei WikiIslam im entsprechenen Artikel:

Circumcision is a law for men and a preservation of honour for women. [...] A woman used to perform circumcision in Medina. The Prophet (peace be upon him) said to her: Do not cut severely as that is better for a woman and more desirable for a husband.“

https://wikiislam.net/wiki/Qur%27an,_Hadith_and_Scholars:Female_Genital_Mutilation


Die vier sunnitischen Rechtsschulen sprechen sich in der Tat, wie Harris es darlegt, für die weibliche Genitalverstümmelung aus, auch wenn an manchen Stellen im Internet das Gegenteil behauptet wird. So wird etwa auf dem kulturrelativistisch-feministischen Blog „Störenfriedas“ faktenwidrig dargelegt, sämtlichen muslimischen Rechtsschulen gelte die Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen als „haram“ (verboten). Die Wahrheit ist jedoch:

„Es sind nicht ‚lokale‘ Führer, sondern unter anderem die Website der schafiitischen Rechtsschule, eine der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islams, auf der man zum Thema weibliche Beschneidung lesen kann: ‚Die offizielle Position der schafiitischen Schule ist, dass es Pflicht ist für Frauen.‘ Die Rechtsschulen der Hanbali, Hanafi und Maliki halten weibliche Genitalverstümmelung für eine ‚gute Tat‘ im Sinne des Islam, aber nicht für Pflicht.“

https://www.mena-watch.com/der-grund-fuer-genitalverstuemmelung/

Die englischsprachige Wikipedia, die bei diesem Thema in geradezu erstaunlicher Weise informationsfreudiger ist als ihr deutsches Pendant, pflichtet bei:

The Maliki, Hanafi and Hanbali schools of Islamic jurisprudence view it as makrama for women („noble“, as opposed to obligatory). For the Shafi'i school it is obligatory (wājib).“

https://en.wikipedia.org/wiki/Religious_views_on_female_genital_mutilation

Gerne wird eingewendet, dass der Koran die weibliche Genitalverstümmelung nicht einmal erwähnt. Das ist richtig, aber für den hier dargelegten Sachverhalt irrelevant. Der Koran erwähnt auch nicht die Knabenbeschneidung, und niemand käme auf die absurde Idee zu behaupten, sie hätte nichts mit dem Islam zu tun. Die Bibel schließlich erwähnt auch an keiner Stelle Buße und Beichte, und trotzdem handelt es sich dabei um zentrale Elemente des katholischen Christentums.

Als Ergebnis dieser Betrachtung ist nun festzuhalten:

- Sarrazins Satz „In großen Teilen der muslimischen Welt werden die jungen Mädchen beschnitten“ ist nicht zu beanstanden, er ist völlig korrekt.

- Weibliche Genitalverstümmelung existiert als Phänomen auch in nicht-muslimischen Gesellschaften, wodurch aber Sarrazins Satz nicht unwahr wird.

- Weibliche Genitalverstümmelung als Brauch hat vor-islamische Wurzeln. Verschiedene islamische Strömungen haben zu diesem Brauch aber eine grundsätzlich bejahende Haltung entwickelt, d.h. ihn nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil in ihr religiöses Brauchtum integriert.

- Weibliche Genitalverstümmelung ist kein alleiniges, ja noch nicht einmal ein überwiegendes „afrikanisches Problem“.

- Die Berichterstattung von Focus Online muss sich daher den Vorwurf „Fake News“ gefallen lassen.

September 2018



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