Hartmut Krauss

Mißbrauch und/oder konsequente Radikalisierung des Religiösen?

     - Zum totalitären Charakter des kulturübergreifenden Fundamentalismus

 

Die „Anzapfung“ des Religiösen als Legitimationsquelle für irdisches Herrschaftsstreben und daraus hervorgehende Gewalttätigkeit und Unterdrückungspraxis ist ein ebenso erdrückender wie kontinuierlicher Tatbestand innerhalb der bisherigen antagonistischen Vergesellschaftungsgeschichte der Menschheit. Handelt es sich bei diesem historischen Grundtatbestand nun um eine subjektiv mißbräuchliche Verfälschung religiöser Bedeutungssysteme oder um eine konsequente ‚Herausarbeitung‘ ihrer inneren Potentiale? Steht der „Name des Herrn“ und sein offenbarter Aussagebestand ausschließlich für das Gute, währenddessen es die „bösen“ Menschen sind, die in Verfolgung ihrer schlechten Absichten dieses „absolut Gute“ deformieren und pervertieren? Oder trägt der Name des Herrn, der offenbarte göttliche Wille, nicht bereits die Wurzel zu seiner herrschaftlichen Anwendung in sich, so daß der Vorwurf des Mißbrauchs als ein nachträgliches Ablenkungsmanöver anzusehen wäre? Die Antwort hierauf hängt natürlich davon ab, ob man das transzendente Medium „Gott“ für eine glaubensstiftende Realität oder für eine kühne Fiktion/Projektion hält, an der sich die Menschheit gründlich „verhoben“ hat.

Die unterschiedlichen kulturprägenden Formen des Religiösen haben jedenfalls bislang nicht nur als spirituelle Glaubenssysteme ihre Wirkungsmacht entfaltet, sondern fungieren stets auch als Legitimationsideologien zwischenmenschlicher Herrschaftsbeziehungen. Aufgrund welcher Charakteristika weisen religiöse Bedeutungssysteme eine so hohe Anfälligkeit bzw. strukturelle „Paßförmigkeit“ für herrschaftslegitimatorische Funktionalisierungen auf? Zunächst ist hier ganz elementar auf die (abwertende) Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft der (Recht-)Gläubigen (‚Wir‘), Häretikern/Andersgläubigen und Nichtgläubigen zu verweisen sowie die darin - zumindest latent - eingeschlossene Deutung von Nicht- und Andersgläubigkeit als moralische Unterlegenheit/Minderwertigkeit. „Der Gläubige ist immer in Gefahr, die Antwort, von der er überzeugt ist und die er für definitiv hält, nicht nur zu beanspruchen, sondern ihre Geltung auch Andersgläubigen zuzumuten. Religion ist in Gefahr, ihre Antwort zu verabsolutieren“ (Kienzler 1996, S. 21). Übergreifendes Wesensmerkmal aller monotheistischen Religionen und gleichzeitig Quelle ihrer fundamentalistischen Potentialität ist zudem der absolut, autoritativ und zeitlos gültige Glaube an eine Offenbarung nichtmenschlichen (göttlichen) Ursprungs. Diese offenbarungsreligiöse Grundüberzeugung beinhaltet die prätentiöse Gewißheit, im Besitz einer ewigen und allgemeinverbindlichen Wahrheit zu sein, die es gegen Anfechtungen - etwa gegenüber den ‚modernen‘ Anhängern eines rationalen Wahrheitsbegriffs sowie einer säkular-humanistischen Werteordnung - zu verteidigen und durchzusetzen gilt. Die Identität des offenbarungsgläubigen Religiösen gründet sich demnach auf eine manichäische Weltsicht, die den Gegensatz zwischen der Gemeinschaft der Offenbarungsgläubigen (die Welt des Guten und der Reinen) und der Gemeinschaft der Nicht- und Andersgläubigen (die des Bösen und Unreinen) akzentuiert. Damit ist aber der Nährboden für eine fundamentalistische Radikalisierung in allen großen Offenbarungsreligionen bereitet, die im Falle ihrer konkreten Manifestation die Enttabuisierung des Lebens im Kampf gegen die Sünder und gegen das Böse einschließt. Der religiös begründete Herrschaftsanspruch und das damit verflochtene moralische Überlegenheitsgefühl können so leicht die Motivationsbasis für die Führung eines „Heiligen Krieges“ bilden und beanspruchen damit potentiell eine Lizenz zum Töten im Namen des Herrn.

Nun wird das Religiöse, in unseren Breiten insbesondere das Christentum, im Rahmen einer selbstvergessenen eindimensional-euphemistischen Sichtweise oftmals mit dem ‚Guten‘ und ‚Barmherzigen‘ schlechthin assoziiert. Verdrängt wird dabei nicht nur das totalitär-repressive und gewalttätige Erbe in Gestalt von Kreuzzügen, Antijudaismus, absolutistischer Deutungsmacht, Hexenverbrennung, Ketzerverfolgung und Inquisition. Ignoriert wird darüber hinaus auch der widersprüchliche und ambivalente Aussagecharakter der monotheistischen ‚Buchreligionen‘. Daraus folgt, daß sich unterschiedliche bis gegensätzliche Auslegungen gleichermaßen legitimieren lassen, ohne daß sich letztendlich eine bestimmte theologische Interpretation als „allein gültig“ nachweisen ließe. Ein ebenso prominentes wie erhellendes Beispiel hierfür ist das kontroverse Bibelverständnis von Luther und Müntzer. So findet Luther im Römerbrief 13 des Paulus, Vers 1 und 2 die Legitimationsquelle für seine Gehorsamslehre: „1. Jedermann sei unthertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. 2. Wer sich nun wider die Obrigkeit setzet, der widerstrebet Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urtheil empfangen.“ Gegen diese herrschaftsapologetisch akzentuierte Schriftauslegenung, die den theologischen Nährboden für Luthers geistiges Wüten im deutschen Bauernkrieg abgab, wendet sich Müntzer in umfassender und radikaler Form: Zum einen lehnt er die Reduzierung der geltenden Normen auf das Neue Testament ab und versteht demgegenüber die ganze Bibel als Gesetz Gottes. D. h. er filtert aus dem Alten Testament Stellen heraus, die sich für seine antithetische Widerstandslehre eignen. Zum anderen hebt er gegenüber Luthers Obrigkeits- und Gehorsamslehre Vers 3 und 4 des zitierten Römerbriefs hervor, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Obrigkeit (die damaligen Feudalgewalten) ihren Auftrag als Dienerin Gottes zur Bestrafung der Bösen längst verraten und damit ihren Gehorsamsanspruch eingebüßt habe.

Generell ist festzustellen, dass die heiligen monotheistischen Bücher wie die Bibel und der Koran zahlreiche und vielfältige (multikontextuelle) Aufforderungen zu gewalttätigem, repressivem und antihumanem Handeln enthalten. So erklärt zum Beispiel der Mensch gewordene Gott:  „Denkt nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen. Nicht Frieden zu bringen bin ich gekommen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, ENTZWEIUNG ANZURICHTEN ZWISCHEN EINEM MANN UND SEINEM VATER; ZWISCHEN EINER TOCHTER UND IHRER MUTTER UND ZWISCHEN EINER SCHWIEGERTOCHTER UND IHER SCHWIEGERMUTTER; UND SEINE EIGENEN HAUSGENOSSEN WIRD DER MENSCH ZU FEINDEN HABEN: Wer Vater und Muter mehr liebt als mich, ist meiner nicht Wert. Und wer nicht sein Kreuz auf mich nimmt und mir nachfolgt, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, wird des verlieren, und wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“(1) Hinzu kommen die Aufforderungen zu Blut- und Sühneopfern sowie die Schreckensbilder der Höllenqualen und der apokalyptischen Visionen(2).

Von herausragender Bedeutung für das islamische Glaubenssystem ist wiederum der ethisch-normative Bruch zwischen dem mekkanischen und dem medinesischen Teil des Koran. In Mekka stand Mohammed mit seiner kleinen Anhängerschar einer übermächtigen Ablehnungsfront gegenüber. Entsprechend tragen die dort (610-622) offenbarten Koranverse einen nahezu ausschließlich spirituellen Charakter. Von Kriegsführung und Gewaltanwendung ist angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse keine Rede. Im Gegenteil: In der mekkanischen Sure 73, Vers 10 heißt es: „Und ertrage in Geduld, was sie (die verleumderischen Quraishiten, H.K. ) sprechen, und flieh von ihnen in geziemender Flucht“. Nach der Übersiedlung nach Medina und der dortigen Gründung eines islamischen Gemeinwesens ändert sich der Verkündungsinhalt radikal, d. h. er wird den neuen Möglichkeiten der kriegerisch-räuberischen Selbstbehauptung gegenüber einer feindlichen Umwelt angepaßt. Aus der Position der errungenen Stärke wird nun ein friedlicher Ausgleich mit den Ungläubigen ausgeschlossenen: „Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben, denn Verführung(3) ist schlimmer als Totschlag“. Das Konzept des ‚Djihad‘, d. h. der ‚Anstrengung‘ zur Verbreitung bzw. Durchsetzung des Islam, ist jetzt nicht mehr begrenzt auf ‚Überzeugungstätigkeit‘ mit friedlichen Mitteln, sondern wird mit militärischer Gewaltanwendung assoziiert und gewinnt so den Charakter des „Heiligen Krieges“. Tatbestand ist demnach, daß sich im Koran sowie in der Sunna des Propheten sehr wohl genügend Legitimationsgründe für eine „strenge“, d. h. herrische, kriegerisch-gewalttätige und intolerante Auslegung finden lassen. „Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt. ... Und hätte Allah gewollt, wahrlich, er hätte selber Rache an ihnen genommen; jedoch wollte er die einen von euch durch die anderen prüfen. Und diejenigen, die in Allahs Weg getötet werden, nimmer leitet er ihre Werke irre. Er wird sie leiten und ihr Herz in Frieden bringen. Und einführen wird er sie ins Paradies, das er ihnen zu wissen getan. ... Und viele Städte, stärker an Kraft als deine Stadt, welche dich ausgestoßen hat (Mekka), vertilgten wir, und sie hatten keinen Helfer!“ (Sure 47, 4-6, 13)(4).
Die folgende Aussage von Christopher Hitchens (2007, S.128) gilt nicht nur für die Bibel, sondern auch für den Koran: „Die Bibel gibt zwar einen Freibrief für Menschenhandel, ethnische Säuberungen, Sklaverei, Zwangsehe und willkürliche Massaker, doch wir sind nicht daran gebunden, denn er wurde von primitiven, unkultivierten menschlichen Säugetieren ausgestellt.“

Ganz im Gegensatz zur ‚postmodernen‘ Verabsolutierung und Fetischisierung kultureller Differenzen weisen die unterschiedlichen religiösen Fundamentalismen einen weitgehenden transkulturellen Übereinstimmungsgrad auf. Das betrifft sowohl ihre Entstehungsgründe als auch ihre inhaltlichen Charaktermerkmale(5). Hervorstechend ist zunächst der konvergente Auslösemechanismus: Gegenüber den sich krisenförmig modernisierenden Lebensbedingungen wird das tradierte religiöse Bedeutungsmaterial als Ausdruck und Bindeglied prämoderner Herrschaftsverhältnisse aktiv umgedeutet und verschärft. Insofern sind Fundamentalisten nicht einfach radikale Traditionalisten, die in Anbetracht der über sie „hereinbrechenden“ ‚Moderne‘ nur defensiv ihre Tradition beschwören, sondern Kräfte, welche die tradierten religiösen Bedeutungen offensiv zu einer militant-aktivistischen Ideologie und normativen Praxis umgestalten. In ihrem Verarbeitungshorizont wird der gesellschaftliche Wandlungsprozeß als „säkulare Verschwörung“ gedeutet und entsprechend dämonisiert, um daraus dann die Notwendigkeit der (Wieder-)Errichtung einer „Gottesherrschaft“ unter Einschluß von Gewalt- und Zwangsmitteln abzuleiten: Der ‚Moderne‘ als Welt des Übels, des Sittenverfalls, des ‚Bösen‘ wird so die Welt des Heils als Rückkehr/Neuerschaffung einer „göttliche Ordnung“ entgegengestellt. Als „Grundübel“ der ‚Moderne‘ wird der geistig-revolutionäre Übergang vom theozentrischen zum rational-humanistischen Weltbild angesehen, der im Kern eine Wiederaneignung der auf ‚Gott‘ projizierten menschlichen Wesenskräfte beinhaltet. Dieser „frevelhafte“ Vorgang des Abfalls ist es, der letztlich den fundamentalistischen Impuls zur konterrevolutionären ‚Rezentrierung Gottes‘ hervorruft und stets von Neuem anreizt.
Im islamischen Fundamentalismus wird die ‚Moderne‘ als Wiederkehr der vorislamischen Unwissenheit und des Unglaubens (Djahiliyya) in neuem Gewand gedeutet und zum Kampf für die Errichtung einer Gottesherrschaft (Hakimiyyat Allah) aufgerufen, deren ideologisch antizipierte und praktizierte Gestalt (vgl. z. B. Iran, Sudan, Afghanistan unter dem Taliban-Regime, aber auch das Regime in Saudi-Arabien) radikal gegen das Konzept der Volkssouveränität und Säkularität gerichtet ist und im Endeffekt auf nichts anderes als eine religiös verbrämte totalitäre Diktatur hinausläuft.
Auch im amerikanischen evangelikalen Fundamentalismus wird, ausgehend von einem idealisierten Ursprungsmythos, die durch Aufklärung, Säkularisierung und sittenwidrigen Liberalismus gekennzeichnete ‚Moderne‘ verschwörungstheoretisch als ‚satanische Verirrung‘ angeprangert, die nach einem genauen heilsgeschichtlichen Plan schließlich überwunden werde und deren Träger vom Jüngsten Gericht ihrer gerechten Strafe zugeführt würden. Die Juden, so der Vordenker der „Christian Coalition“, Pat Robertson, „seien durch die Aufklärung an die Macht gekommen und hätten die Permissivität erfunden, um das christliche Abendland den traditionellen Obrigkeiten, Kirche, Adel und Monarchie, zu entfremden und um einen weichen, permissiven, marktgerechten Liberalismus bzw. Sozialismus einzuführen“ (Ostendorf 1998, S. 174). Während Robertson in der Konstruktion seiner wilden Verschwörungsphantasien auf klassisch-faschistische Ideologeme zurückgreift, geht die militante amerikanische Sekte „Christian Identity“ in ihrer aktivistischen Haltung zur bevorstehenden kosmischen Schlacht zwischen „Gut“ (Wiederkehr Christi) und „Böse“ (Antichrist) davon aus, „daß der wahrhaft Gläubige in ständiger Bereitschaft für den Endkampf ausharren muß. Diese Bereitschaft impliziert das Anlegen von Vorräten an Trinkwasser, Nahrungskonserven und Waffen“ (Zickmund 1998, S. 307).
Ausgehend von einer heilsgeschichtlich-messianischen Erwartungshaltung sehen auch die jüdischen Fundamentalisten den säkularen Staat als ein Übel bzw. als Hort der Verderbnis an, den es zu Gunsten einer religionsgesetzlichen Herrschaftsordnung zu überwinden gelte. In direkter Anknüpfung an göttliche Pläne wird ein kategorischer Anspruch auf das „Land Israel“ erhoben. Demnach ist das jüdische Volk Besitzer des Landes Israel und aufgrund dieser Herrschaftsstellung ermächtigt, Nichtjuden des Landes zu verweisen. In diametralem Gegensatz zum jüdischen Siedler-Fundamentalismus betrachten wiederum die islamischen Fundamentalisten der Hamas Palästina als ‚göttliches Eigentum‘, das allen Muslimen bis zum Jüngsten Tag gehört und das weder verlassen, noch geteilt, noch abgetreten werden darf. Diese Konfrontation gegensätzlicher Fundamentalismen bildet letztlich die ‚Tiefenstruktur‘ der ebenso resistenten wie gewalttätigen israelisch-palästinensischen Konfliktbeziehungen.
In allen Fällen dient die selektive Reaktivierung chiliastischer Glaubensinhalte auch dazu, eine scharfe Unterscheidung vorzunehmen zwischen dem eigenen Kollektiv der Auserwählten, Reinen und Glaubenstreuen und den Anderen, die als unrein, ungläubig und als Inkarnation des Bösen angesehen werden. Erscheint im (schiitischen) Islam der Verborgene Imam, in der jüdischen Religion der viel beschworene Messias und im Christentum Jesus Christus als heilsbringende Lichtgestalt, so koinzidieren diese Figuren in ihrer Eigenschaft als geheiligte Garanten des Sieges in der unumgänglichen kosmischen Entscheidungsschlacht.

Ein weiteres Wesensmerkmal der religiösen Fundamentalismen ist in dem Bestreben zu erkennen, die willkürlich ausgewählten, radikalisierten und politisch-aktivistisch uminterpretierten Glaubensinhalte als absolute Handlungsnormen durchzusetzen. Bei dieser diktatorischen Verabsolutierung religiöser Verhaltensvorschriften geht es im Kern um die „Übersetzung“ religiöser Glaubensinhalte in ein totalitäres ‚alltagsethisches‘ Ordnungskonzept, in dessen Rahmen ‚Nonkonformität‘ bzw. sichtbare Nichtbefolgung religiöser Normen unter Einsatz terroristischer Mittel und spezieller Repressionsorgane („Sittenpolizei“) systematisch unterdrückt und sanktioniert wird. Dabei spielen die erreichte gesellschaftliche Machtposition und der dadurch ermöglichte Handlungsspielraum der fundamentalistischen Bewegung eine entscheidende Rolle bezüglich des Ausprägungsgrades der repressiven Normierungspraxis. Die vom konkreten Kräfteverhältnis abhängige Verwirklichung dieser Grundintention schließ immer auch die Reinigung der Gemeinschaft der Rechtgläubigen von „glaubensfremden“ Elementen ein, die von systematischer Benachteiligung über soziale Ächtung bis hin zu physischer Eliminierung reicht: Katharsis durch Auslöschung der Ungläubigen.
Im Gegensatz zur irrtümlichen Projektion des modernen individualrechtlichen Religionsverständnisses auf den Islam ist der Islam nicht nur ein religiöses Glaubenssystem, sondern ein vollkommenes, absolut und ewig gültiges Ordnungssystem, das sämtliche Aspekte des menschlichen Lebens perfekt und umfassend normiert. So regelt die Schari’a, das aus dem Koran und dem Vorbild (Sunna) des Propheten abgeleitete islamische Recht, nicht nur Fragen des Glaubens und der Moral, sondern darüberhinaus auch die Bereiche des Wirtschafts-, Familien-, Erbschafts-, Verwaltungs-, Straf- und Prozeßrechts sowie Kleidungs- und Umgangsformen, Ernährungsweise, persönliche Hygiene und vieles mehr. Dieses ‚ganzheitliche‘ Konzept des vorherrschenden „Gesetzes-Islam“ bietet die entscheidende Anknüpfungsgrundlage für fundamentalistische Zuspitzungen. Ein Beispiel für die fundamentalistisch radikalisierte Auslegung und Anwendung der Schari’a lieferte die afghanischen Talibanherrschaft.
In der jüdischen Religion gilt die in der hebräischen Bibel und im Talmud niedergelegte Tora (Lehre, Weisung) als Manifestation der von Gott offenbarten Schöpfungs- und Weltordnung. Auch sie wird als verpflichtender normativer Kanon angesehen, der sämtliche menschlichen Lebensbereiche umfaßt. Da die Tora - gleich dem Islam - keine Trennung zwischen religiösem und säkularem Lebensbereich zuläßt, ist eine beständige Auslegung der heiligen Texte durch Rabbiner und Gelehrte unabdingbar. Im Zentrum steht hier insbesondere die „Halacha“, das jüdische Religionsgesetz. Während das Reformjudentum dazu tendiert, auf Teile des traditionellen Toraverständnisses zu verzichten, hält das orthodoxe Judentum an der Unveränderlichkeit der Tora fest und legt damit den Grundstein für die ‚Fundamentalisierung‘ der jüdischen Religion in Gestalt des Strebens nach religionsgesetzlich-diktatorischer Regulierung des Alltagslebens. Ein Beispiel hierfür ist das Sabbatgesetz: So sind an diesem Tag selbst Straßen, die außerhalb der orthodoxen Wohnviertel liegen, für den Autoverkehr gesperrt. Ebenso bleiben Kinos, Theater und Sportstätten geschlossen. Auch die Fluggesellschaft El Al darf während des Sabbats weder ein- noch ausfliegen.

Auch der christliche Fundamentalismus zielt in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen auf die repressiv-totalitäre Beherrschung der individuellen Lebensführung. So entspringt die vordergründig ‚defensive‘ Agitation amerikanischer fundamentalistischer Protestanten gegen die Abschaffung des Schulgebets, gegen die Darwinsche Evolutionstheorie als Unterrichtsgegenstand, gegen die Legalisierung der Abtreibung etc. einem ungezügelten ‚Willen zur Macht‘. „Lassen Sie sich“, so der militante Abtreibungsgegner Randall Terry, „von der Welle der Unduldsamkeit mitreißen. Lassen Sie sich von dieser Welle des Hasses erfassen. Jawohl, Haß ist eine gute Sache. ... Wir kämpfen um die christliche Nation. Es ist unsere biblische Pflicht: Gott ruft uns, dieses Land für ihn zu erobern“ (zit. n. Barber 1999, S. 221). Gestützt auf eine massive Medienpräsenz, eine weitverzweigte propagandistische Tätigkeit und eine nachhaltige Einflußnahme auf die amerikanische Regierungspolitik wird sukzessive die Trennung von Religion und Politik hintertrieben, das Erziehungswesen gegenaufklärerisch infiltriert und die öffentliche Moral im Sinne der antiliberalen Postulate der fundamentalistischen Ideologie gezielt unterwandert (militante Kampagne gegen Abtreibung, Frauenemanzipation, Homosexualität und Ehescheidung). Am klarsten kommt die protestantisch-fundamentalistische Zielsetzung bei den sog. Rekonstruktionisten zum Ausdruck, die eine Wiederherstellung der Gottesherrschaft anstreben und dafür das biblische Recht bzw. den alttestamentarischen Strafkatalog zum Grundgesetz für ganz Amerika machen wollen.
In dieser antinomischen Beschaffenheit als zugleich kapitalistisch (wirtschaftsliberalistisch) und religiös-(fundamentalistisch) grundierte imperiale Supermacht stellen die USA ein herrschaftsstrukturelles Hindernis für die Verteidigung und Durchsetzung einer weltweiten progressiv-humanistischen Werteordnung dar. Sie mögen sich zwar in ihrem  „Krieg gegen den Terrorismus“ vordergründig gegen die militanten Speerspitze des islamischen Fundamentalismus durchsetzen, sind aber auf Grund ihrer momentanen Konstitution kein Bündnispartner, sondern ein Widerpart im notwendigen Kampf gegen die Grundlagen des kulturübergreifend wirksamen Neototalitarismus religiöser Prägung.

Literatur:

Barber, Benjamin R.: Demokratie im Würgegriff. Kapitalismus und Fundamentalismus - eine unheilige Allianz. Frankfurt am Main 1999.

Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des alten und neuen Testaments.

Bielefeldt, Heiner, Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus. Frankfurt am Main 1998.

Hitchens, Christopher: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. München 2007. 4. Auflage.

Kienzler, Klaus: Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam. München 1996.

Krauss, Hartmut: Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen ‚prämoderner’ Herrschaftskultur und kapitalistischer ‚Moderne’. Osnabrück 2003

Der Koran (herausgegeben von Kurt Rudolph und Ernst Werner), Leipzig 1984. 6. Auflage.

Ostendorf, Bernd: Conspiracy Nation. Verschwörungstheorien und evangelikaler Fundamentalismus: Marion G. (Pat) Robertsons „Neue Weltordnung“. In: Bielefeldt, Heiner, Heitmeyer, Wilhelm 1998, S. 157-187.

Zickmund, Susan: Religiöse Verschwörungstheorien und die Milizen in den USA. In: Bielefeldt, Heiner, Heitmeyer, Wilhelm 1998, S. 301-319.

1. Das ist nicht Mohammed, sondern der „Schwertvers des Christentums“, Matthäus 10, 34-39.

2.„Das Endheil Gottes erwächst aus einem Meer von Blut, in dem die letzte Gottesrache an all denen, die Gottes Auserwählte verfolgt und zu Tode gebracht haben, vollstreckt wird.“ (Das Neue Testament. Einleitung zur Offenbarung des Johannes 1970, S. 876).

3.„Verführung“ ist hier im Sinne von „Vertreibung“ zu verstehen.

4. Der Koran 1979, S. 463f.

5. Vgl. hierzu ausführlich: Krauss 2003.

 

zum Anfang

bor