Zur aktuellen Formierungsweise der islamistischen Bewegung(1)

Auszug aus: Krauss, Hartmut: Islam, Islamismus, muslimische Gegengesellschaft. Eine kritische Bestandsaufnahme. Osnabrück 2008. S. 234 - 243.

Der Islamismus als radikalisierte Form des traditionell-konservativen bzw. orthodoxen Islam tritt uns zunächst als objektiviertes Bedeutungssystem in Gestalt von Schriften, Reden/Predigten, Normen, Handlungsanweisungen, Programmen etc. sowie als Ensemble von Institutionen (Organisationen, Schulungseinrichtungen, Moscheevereinen, bewaffneten Verbänden, konspirativen Terrorgruppen, Parteien, Staatsapparaten, Repressionsorganen etc.) entgegen, das durch die Gesamttätigkeit konkreter Akteure reproduziert wird. Diese Akteure sind nun ihrerseits dadurch charakterisiert, dass sie dieses objektive Bedeutungssystem angeeignet und in subjektive Überzeugungen sowie institutionell realisierte Handlungsmotivationen unterschiedlicher Reichweite ‚übersetzt’ haben. Aus dieser unterschiedlichen Reichweite institutionell realisierter Handlungsmotivationen - vom Spendensammler bis zum Selbstmordattentäter - ergibt sich dann der ‚naturwüchsige’ Umstand, dass der Islamismus bzw. die islamistische ‚Gesamtbewegung’ viele Gesichter zeigt und wie dargestellt einen arbeitsteiligen Funktionskomplex darstellt, der von der repressiven Durchsetzung und Überwachung eines ‚streng-gläubigen’ Erziehungs- und Sozialisationsprozesses der Nachgeborenen(2) bis hin zur aktiv-gewalttätigen Bekämpfung der ‚Kultur der Ungläubigen’ reicht.
Als konkrete (kulturspezifische) Erscheinungsform einer totalitären Bewegung zeichnet sich auch der Islamismus durch die Verknüpfung prämoderner (religiöser) Herrschaftsideologie mit modernen Tätigkeitsmitteln aus. D. h. es geht um die Indienstnahme insbesondere der technischen Moderne im Interesse der reaktionär-aggressiven Behauptung einer vormodernen (antiemanzipatorischen) Herrschaftskultur. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Nutzung des Internets als Agitations-, Schulungs- und Anleitungsmedium des globalen Djihads:
„Hier werden Kämpfer angeworben und mit dem nötigen Wissen für den heiligen Krieg und ausgewähltem Geschichtswissen für ihr Weltbild ausgestattet. Die Zahl der Seiten, die minutiös schildern, wie man Bomben baut, wie man Anschläge vorbereitet und ein Selbstmordattentat verübt oder Propaganda betreiben, ist Legion. Fachleute schätzen die Zahl der stabil zu erreichenden und der vagabundierenden Terror-Seiten im Netz auf 4.500. In Chatrooms, die immer wieder ihre Adresse wechseln, tauschen sich die Islamisten nicht nur aus, mit eigenen Fernsehprogrammen im Internet errichten sie eine regelrechte Gegenöffentlichkeit“ (Mekhennet u. a. 2006, S. 156).
Gestützt auf die Internetpräsentation djihadistischer Ideologie und Handlungsanleitung wird so zum einen die objektive Multipräsenz islamistischer Deutungs- und Handlungsangebote erheblich gesteigert und verdichtet und zum anderen mit der Herauslösung des Islamismus aus seinen jeweiligen kulturell-nationalen Einbettungen eine zusätzliche exterritorialisierte Propaganda- und Kommunikationsebene geschaffen. Als Folge dieser entterritorialisierten islamistischen Kommunikation und Globalisierung von identitätspolitischen Verständigungsprozessen hat sich so etwas wie eine „virtuelle Umma“ herausgebildet, die insbesondere auch für isolierte islamistische Glaubenskämpfer in der westlichen Diaspora als imaginäres Identifikationsobjekt dient. Unter Berufung auf diese virtuelle Umma und ihre islamistischen Normen und Handlungsparadigmen wird dann auch die desintegrative Abgrenzung zur westlichen Gesellschaft vollzogen. Dabei spielt oftmals die besondere Betonung strenger Vorschrifteneinhaltung im Sinne einer ausgeprägten Normierungsmanie eine hervorstechende Rolle.
„Und so werden die Handlungen von Gläubigen, vor allem von Konvertiten und wiedergeborenen Muslimen, zu einer Art Inszenierung ihres eigenen Glaubens: Bei vielen Neofundamentalisten findet sich ein gewisser ‚Exhibitionismus’, indem ganz bestimmte Zeichen auf ihre religiöse Identität hinweisen sollen. Neben einer ganz bestimmten Kleidung tauchen in ihrer Sprache immer wieder gewisse, gewöhnlich arabische, Wendungen auf, wie ‚Bruder’, jazakallah, bismillah und so weiter“ (Roy 2006, S. 263).
Zum Arsenal moderner islamistischer Agitationsmittel gehören aber auch einübende Gewaltvideos für Kinder wie der „Kleine Mudschahed“, der wie selbstverständlich die Pistole gegen Ungläubige richtet, von klein an den Koran studiert und dem Vorbild seines Vaters folgt, der mit modernen Waffen heldenhaft kämpft.
„Die Juden, lernen die Kinder, seien ‚für den Tod von 25 von Allahs Propheten verantwortlich’ so wie für eigentlich jedes Übel in der Welt, habituelle Kindermörder seien sie sowieso. Wohin der Dschihad zu führen habe, wird auch gelehrt. Zunächst seien die muslimischen Regionen in Spanien, das ehemalige Al Andalus, zurückzuerobern. Unter muslimischem Recht, heißt es bei awladnaa.net, sei es den Menschen dort viel besser gegangen als heute“ (Mekhennet u. a. 2006, S. 165).
Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, was Beamte in Süddeutschland bei einer Hausdurchsuchung von dem fünfjährigen Sohn eines Islamisten zu hören bekamen:
„Wenn ich groß bin, möchte ich ein Mudschahed werden wie mein Vater und Ungläubige töten“ (ebd. S. 7).
Die objektive Reichhaltigkeit und Angebotsdichte der islamistischen Ideologie trifft nun auf eine Masse von konservativ-islamisch sozialisierten und entsprechend ‚vorgeprägten’ Menschen, die in Anbetracht der vielfältigen Verunsicherungen, Widersprüchlichkeiten und Dissonanzen bzw. Krisenerfahrungen innerhalb ihres Lebensprozesses bestrebt sind, ihre lädierte Iden-tität wiederherzustellen und sich gegenüber einer negativ veränderten bzw. überzeugungskonträren Wirklichkeit neu zu orientieren. Die damit einsetzenden zentralen Aktivitäten im Rahmen der subjektiven Verarbeitung der erfahrenen bzw. ‚erlebten’ Orientierungs- und Sinnkrise sind folglich a) Suchbewegungen nach ‚neuen’ orientierungs- und sinnrelevanten Bedeutungen (Erklärungen, Handlungsanweisungen, Normen etc.) sowie - in engem Zusammenhang damit - b) eine Intensivierung und/oder Neustrukturierung der Kommunikationsbeziehungen im Interesse der Ausnutzung und Mobilisierung von Unterstützungspotentialen im zugänglichen Beziehungskontext. Die in diesem Suchprozess „gefundenen“ islamistisch radikalisierten Deutungs-, Sinngebungs- und Handlungsanbote erweisen sich dann oftmals - und zwar unabhängig von ihrer objektiven Irrationalität und Destruktivität - insbesondere in folgender Hinsicht als ‚subjektiv funktional’(3):
1) Die rigorose Setzung und individuelle Einhaltung verbindlicher und eindeutiger Handlungsvorschriften reduziert die vielfältigen individuellen Verhaltensunsicherheiten gegenüber den - im sozialisierten Bewusstseinshorizont - als bedrohlich und ‚unrein’ wahrgenommenen modernen Vergesellschaftungstendenzen mit ihren normativen Unübersichtlichkeiten, Entscheidungszumutungen und riskanten Handlungssituationen. Unter den Lebensbedingungen der westlichen Aufnahmegesellschaften grassiert so zum Beispiel eine ‚islamgerechte’ Ratgeberliteratur, die genaue Anweisungen darüber enthält, wie man sich islamisch korrekt verhält, was man darf und was man nicht darf und vor allem wie man gefährdende Kontakte gegenüber der nichtmuslimischen Lebensumwelt, die voller haram (unerlaubter Dinge) ist, so weit wie möglich vermeidet. Der westlich-säkularen Lebensweise wird so ein islamisch-moralisches Apartheidsystem entgegengesetzt.
2) Die identifikatorische Bezugnahme auf die imaginäre Umma, die im Sinne eines dualistischen Freund-Feind-Denkens der umfassend verteufelten westlichen Lebenskultur entgegengesetzt wird, ist zugleich identitätsbildend und verschafft ein emotional stabilisierendes Gemeinschaftsgefühl. Auch hieraus geht wiederum zum einen ein starker Impuls zur sichtbaren Abgrenzung gegenüber der säkular-modernen Gesellschaft hervor und zum anderen das Bestreben, unter Ausnutzung demokratischer Rechtsverhältnisse schariatisch bestimmte Herrschaftsräume im Sinne einer evolutionären Islamisierungsstrategie zu erobern und dann Stück für Stück auszuweiten.
3) „Mit der Abwertung der westlichen Werte und Lebensweise werden zugleich eine ‚islamische Identität’ und damit ein religiös-moralisch begründeter Überlegenheitsanspruch vermittelt, der negative Alltagserfahrungen zu kompensieren vermag und darum gerade für viele junge Muslime anziehend sein dürfte“ (Puschnerat 2006, S. 139).
Inwieweit der identitätspolitische islamische Überlegenheitsanspruch sich dann mit einer evolutionären (Re-)Islamisierungs-strategie zufrieden gibt oder aber in eine unmittelbar gewaltorientierte, aggressiv-kriegerische (djihadistische) Tätigkeitsrichtung transformiert wird, hängt schließlich von individualbiographischen Besonderheiten und Zufällen ab und sollte deshalb nicht als eine ontologischen Scheidelinie zwischen „gutem“ und „bösem“ Islamismus verdinglicht werden. Auch der „gute“, un-mittelbar nicht gewalttätige Islamismus zielt letztlich auf die Errichtung einer totalitären gottesherrschaftlichen Gesellschaft ab.
4) Letztlich wird dann im Rahmen der djihadistischen Tätigkeitsentwicklung mit der Übernahme eines intensiven Paradies- und Märtyrerglaubens sowohl die irdische Lebensrealität entwichtigt als auch ein Akt der Selbstheiligung betrieben, womit zum einen eine radikale Immunisierung gegenüber weltlichen Enttäuschungen vollzogen und zum anderen eine starke narzisstische Neigung befriedigt werden kann.
Die Aneignung der islamistischen Ideologie vermittelt dem durch Krisen- und Widerspruchserfahrungen labilisierten Subjekt somit zwar vordergründig Verhaltenssicherheit, Identität, ein ausgeprägtes Überlegenheits- und Gemeinschaftsgefühl, ein kompensatorisches Hassobjekt sowie eine transzendentale Selbstbefriedigung. Dennoch erweist sich die islamistische Verarbeitung der erfahrenen Lebenswidersprüche letztlich aber als eine Selbstregression, ja Selbstauslöschung des Subjekts, indem sich das Individuum als vernunftbegabtes und potentiell emanzipationskompetentes Wesen durch die Übernahme eines aggressiven Irrationalismus selbst liquidiert, in die Isolation einer verblendeten Zwangsgemeinschaft einbetoniert und durch seine antihumanistisch-gegenaufklärerische und zerstörerische Praxis zum gotteswahnsinnigen ‚Unmensch der Menschheit’ entartet.
Der bereits hervorgehobene Tatbestand, dass es sich bei den islamistischen Gewalttätern keinesfalls um bewusste Verfälscher handelt, die eine an sich „gute“ und „friedliebende“ Religion gezielt missbrauchen, sondern um zutiefst religiös überzeugte Akteure, die ihre eigene Glaubensauslegung mit durchaus folgerichtigen Ableitungsgründen für die einzig wahre halten, geht auch aus dem folgenden Textauszug eines jüngeren pakistanischstämmigen Aussteigers aus der radikalen britischen Islamistengruppe Al-Muhajiroun hervor:
„Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch ein Mitglied jener losen Formation halbautonomer und primär durch ihre Ideologie verbundener Gruppen, die sich wohl am besten als Netzwerk des britischen Dschihad beschreiben lässt. Da pflegte ich jeweils mit meinen Gefährten in triumphierendes Gelächter auszubrechen, wenn im Fernsehen wieder einmal behauptet wurde, dass islamistische Terrorakte wie die Anschläge vom 11. September oder die Bombenattentate in Madrid und London einzig durch die Außenpolitik des Westens verursacht seien. Indem sie ihren Regierungen die Schuld für unser Handeln zuschoben, nahmen uns diese Kommentatoren die Propagandaarbeit ab. Und wichtiger noch, sie lenkten die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Triebfeder unseres Handelns ab: der islamistischen Theologie.
Obwohl viele islamische Extremisten in Großbritannien tatsächlich Zorn über den Tod ihrer Glaubensbrüder in anderen Ländern verspüren, ist dies doch nicht die wichtigste Ursache ihres Handelns. Was mich und viele meiner Gefährten dazu antrieb, in Großbritannien - unserer Heimat - und in anderen Ländern Terroranschläge zu planen, war das Gefühl, für die Erschaffung eines revolutionären Staates zu kämpfen, der am Ende der ganzen Welt die Gerechtigkeit des Islam bringen würde.
Aber wie kam es dazu, dass diese (fragwürdige) Utopie mit anhaltender Gewalt durchgesetzt werden sollte? Wie rechtfertigen radikale Islamisten solchen Terror im Namen ihrer Religion? ... Auf individueller Ebene mögen Muslime dem Säkularismus zustimmen oder ihn ablehnen, aber zumindest gegenwärtig erlaubt die formelle islamische Theologie - im Gegensatz zur christlichen - keine Trennung von Staat und Religion; diese werden als ein und dasselbe verstanden. Die jahrhundertealte islamische Rechtstradition deckt auch das Verhältnis und die Interaktion zwischen dem Dar ul-Islam (»Haus des Islam«, den muslimischen Ländern) und dem Dar ul-Kufr (den Ländern der Ungläubigen) ab und hält Verhaltensregeln für den Handel, für Krieg und Friedenszeiten bereit.
Die Radikalen führen diese Grundsätze nun zwei Schritte weiter. Im ersten Schritt argumentieren sie, dass derzeit kein wahrer islamischer Staat existiere und dass demzufolge die gesamte Welt Dar ul-Kufr sein müsse. Schritt zwei heißt dann: Da der Islam den Unglauben bekämpfen muss, erklärt man der ganzen Welt den Krieg. Wie ich selbst wurden viele meiner einstigen Weggefährten von extremistischen Predigern in Pakistan und Großbritannien belehrt, dass diese neue Klassifizierung der Welt als Dar ul-Harb (»Haus des Krieges«) es jedem Muslim gestatte, die fünf geheiligten Rechte zu verletzen, die jedem unter der Herrschaft des Islam lebenden Menschen garantiert sind: Leben, Besitz, Land, Geist und Glaube. Im Haus des Krieges ist alles erlaubt, auch feige, verräterische Anschläge auf Zivilisten...
Die Hauptursache für den Erfolg der Radikalen ist die Tatsache, dass die meisten islamischen Institutionen in England schlicht und einfach nicht über Theologie reden wollen. Sie weigern sich, die schwierige und oft komplexe Frage nach dem Stellenwert der Gewalt im Islam anzugehen; stattdessen wiederholen sie das Mantra, dass der Islam eine friedvolle Religion und der Glaube eine persönliche Angelegenheit sei, und hoffen, dass sich diese ganze Debatte irgendwie in nichts auflösen wird.“(4)
Aufgrund vorliegender Erkenntnisse lässt sich nun annäherungsweise das folgende Verlaufsmodell eines individuellen Entwicklungsprozesses zum islamistischen Terroristen umreißen:
1) Aufgrund einer individuellen Lebenskrise mit den dazugehörigen Widerspruchserfahrungen trifft das nach Neuorientierung und -strukturierung seiner Lebenstätigkeit und Kommunikationsbeziehungen suchende Individuum auf radikal-islamische Bedeutungsangebote. Oftmals begegnet es dabei auch islamistischen „Schleppern“, die zum Beispiel nach Freitagsgebeten unverfänglich das Gespräch mit Heranwachsenden suchen
„und dabei wie Psychologen vorgehen. Wer hat Identitätsprobleme? Wer ist in einer Krise? Wer hat Ärger mit den Eltern? Die Anwerber geben sich als verständnisvolle Zuhörer und Ratgeber. Sie laden ihre Opfer in private Gesprächszirkel ein und geben ihnen das Gefühl, wichtig zu sein und ernst genommen zu werden. Dann kommt das Gespräch auf den wahren Islam’“ (Mekhennet u. a. 2006, S. 79f.).
2) In dieser ersten Ideologisierungsphase rezipiert der Betroffene islamistische Propagandainhalte zum Beispiel via Internet und/oder in Korankursen in nahe gelegenen Moscheen oder islamischen Begegnungsstätten und verändert sein Kommunikations- und Interaktionsnetz.
3) Innerhalb dieser ersten ideologischen Festigungsphase wird dann nach und nach ein Persönlichkeitswandel vollzogen: Islamische Kleidungs-, Bet- und Handlungsvorschriften werden strikt eingehalten; der Betroffene kapselt sich gegenüber der nicht streng gläubigen Lebensumwelt einschließlich seiner engen Verwandten zunehmend ab und widmet sich ganz der neuen rigoros-islamischen Lebensführung.
4) Die zunehmende Entfremdung von der herkömmlichen Lebensumwelt, die immer stärker verachtet wird, geht einher mit einer immer stärkeren Bindung an die Gruppe der Gleichgesinnten, die ihrerseits die Aktivitäten ihrer Mitglieder im Rahmen hierarchischer Führer-Gefolgschaftsverhältnisse streng kontrolliert. Die grundlegende Ideologisierungsphase geht jetzt über in die Phase der aktivistischen Radikalisierung. Oftmals fungieren hierbei radikale Prediger als geistig-moralische Mentoren im Sinne religiös-ideologischer Anleiter und Überwacher.
5) Die Koranschulen in Ländern wie Pakistan, Jemen oder Indonesien, die dort oftmals das marode und mangelhafte staatliche Bildungsangebot kompensieren, aber auch die islamistisch beeinflussten Moscheen und Kultureinrichtungen im Westen sind nun wiederum das Zielobjekt von Anwerbern der islamistischen Terrornetzwerke, die aus den Reihen der jungen islamistisch ideologisierten Zöglinge Kandidaten für Terroranschläge und Selbstmordattentate rekrutieren.
„Sie stellen die notwendigen Kontakte her, um potentielle Rekruten an entsprechende Spezialisten (‚Ausbilder’) der Terrororganisationen weiterzuvermitteln, die letztlich über Eignung und Verwendung der Neuzugänge entscheiden bzw. der jeweiligen Führung entsprechende Vorschläge machen“ (Schneckener 2006, S. 124).
6) In den Ausbildungslagern der transnationalen islamistischen Terrornetzwerke werden nun die rekrutierten und freiwilligen Gotteskrieger sowohl militärisch-waffentechnisch trainiert als auch ideologisch fortgebildet. Unterrichtsinhalte sind vor allem
„die Lehre des Dschihad, islamisches Recht, islamische Geschichte und Politik sowie der Umgang mit ‚Ungläubigen’“ (ebd. S. 134f.).
Auf der Grundlage von zwei Standardwerken(5) werden im Rahmen der waffentechnisch-militärischen Ausbildung neben der Strategie und Taktik des Guerillakampfes Kenntnisse über den Gebrauch von Sprengstoff, den Umgang mit schweren Waffen sowie die Vorbereitung von Anschlägen und Selbstmordattentaten vermittelt. Zudem existiert - wie bereits angeführt - eine djihadistische „Fernuniversität“ im Internet.
Nach Angaben des Direktors des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, Jonathan Evans, verfügt das Terrornetz Al Qaida über einen „ständigen Strom neuer Rekruten“, wobei die Sicherheitskräfte beobachten, dass auch fünfzehn und sechzehn Jahre alte Jugendliche gezielt für islamistisch-terroristische Ausbildungsprogramme geworben würden.
„Die ausgeführten und geplanten Terrorangriffe auf Ziele in Großbritannien seien kein Werk versprengter Gruppen. Vielmehr habe Al Qaida die feste Absicht, solche Terrorangriffe auf britische Einrichtungen zu lenken. Die Angriffe auf Großbritannien würden nicht länger allein von Pakistan aus gelenkt, vielmehr unterhalte Al Qaida auch Zentren in Somalia, Algerien und im Irak.“(6)

 

1. Da es mir in der vorliegenden Abhandlung primär um die ideologische Beschaffenheit und die subjektive Funktionslogik des Islamismus als neototalitärer Gesamtbewegung geht, gehe ich hier nicht systematisch und ausführlich auf die Analyse des islamistischen Terrorismus als deren integrales Teilsystem ein. Diesbezüglich verweise ich auf einschlägige beschreibende, dokumentierende und analysierende Veröffentlichungen. Zum Beispiel: Hoffmann 2003, Thamm 2004, Kepel/Milelli 2005, Abou-Taam/Bigalke 2006, Brisard 2005, Steinberg 2005, Musharbash 2006 und Schneckener 2006.

2. So heißt es in der islamistischen Internetzeitung Al Khansa: „Unser erster Dschihad ist die Erziehung unserer Kinder“ (Mekhennet u. a. 2006, S. 167).

3. Wie bei allen Ideologieinhalten ist immer zwischen dem objektiven Wahrheitsgehalt (Realitätsangemessenheit) und der subjektiven Funktionalität zu unterscheiden.

4. www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-638/_nr-22/i.html?PHPSESSID=5 - 58k -

5. Dabei handelt es sich zum einen um die 7.000 Seiten umfassende „Encyclopaedia of the Afghan Jihad“, in der „vor allem ägyptische und saudische Autoren im Laufe mehrer Jahre die Erfahrungen des Afghanistankrieges zusammengetragen haben, um sie für Guerillakampf und Terrorismus andernorts zu nutzen“ (Schneckener 2006, S. 133f.) Ein zweites Handbuch speziell für terroristische Zwecke wurde 1993/94 von Mitgliedern einer ägyptischen Terrororganisation verfasst. Es trägt den Titel „Deklaration of Jihad against the Country’s Tyrants (Military Series). „Es enthält auf 180 Seiten, unterteilt in 18 Lektionen, das Know-how des Terrorismus - von den erforderlichen charakterlichen Eigenschaften der Täter über Bomben und Giftattentate bis hin zu Geiselnahmen und Foltermethoden“ (ebenda S. 134).

6. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.11.2007, S. 9.

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