Hartmut Krauss

Zwangsverheiratung zwischen empirischer Realität und ideologischer Verdunkelung
Darstellung und kritische Kommentierung der Studie
„Zwangsverheiratung in Deutschland - Anzahl und Analyse von Beratungsfällen“ (Kurzfassung)

 

Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde 2009 bis 2010 von der Johann Daniel Lawaetz-Stiftung eine empirische Untersuchung durchgeführt, um erstmals die bundesweite Verbreitung von Zwangsverheiratung (ZV) zu erfassen. Schriftlich befragt wurden demgemäß Beratungs- und Schutzeinrichtungen nach ihnen bekannt gewordenen und dokumentierten Fällen von ZV. Gleichzeitig fanden zusätzliche Erhebungen in relevanten Bereichen wie Schulen, Integrationszentren, Organisationen von Migranten etc. statt.

Von den angefragten 1.445 Beratungs- und Schutzeinrichtungen antworteten 830. Von diesen waren 366 mit ZV(1) konfrontiert worden. „Von den 830 Einrichtungen, die sich an der Befragung beteiligt haben, nannten 358 Einrichtungen Beratungsfälle, die sich für das Jahr 2008 auf insgesamt 3.443 beratene Personen beliefen, darunter 252 (7%) Männer.“ (S. 22). Die Zahl von 3.443 Beratungsfällen stellt eine Bruttogröße dar, da von ZV Betroffene zum Teil mehrere Beratungsstellen aufsuchen. Diese Zahl der Mehrfachzählungen lag schätzungsweise zwischen 14 und 43%. Andererseits ist aber von einer hohen Dunkelziffer von ZV auszugehen, da nur ein - wahrscheinlich kleinerer - Teil von Betroffenen Beratungsstellen aufsucht.
An der Schulbefragung beteiligten sich 254 von 726 angeschriebenen Schulen, was einem Rücklauf von 35% entspricht. Bei etwa einem Drittel der antwortenden Schulen war ZV ein Thema.

Fast alle von ZV Bedrohten/Betroffenen, die im genannten Zeitraum eine Beratungs- und Schutzeinrichtung aufsuchten, hatten einen Migrationshintergrund. Die meisten sind in Deutschland geboren (32%), gefolgt von der Türkei (23%), Serbien/Kosovo/Montenegro (8%) und dem Irak (6%). 44% haben einen türkischen Migrationshintergrund. Hervorzuheben ist, dass weder der formale Indikator „Deutsche Staatsangehörigkeit“ noch die Länge der Aufenthaltsdauer in Deutschland vor ZV schützt bzw. diese Bedrohung abschwächt. 29% der Beratungssuchenden war bereits zwangsverheiratet worden, 71% der Betroffenen sahen sich mit einer angedrohten ZV konfrontiert. „Je älter die Personen, desto häufiger waren sie bereits gegen ihren Willen verheiratet.“ Von ZV bedroht waren bereits 30% zumeist weibliche Betroffene im Alter von unter 13 bis 17 Jahren. Auf die Altersgruppe der 18- bis 21-Jährigen entfielen ca. 40%. „Die jüngste Beratene war 9 Jahre, die älteste 55 Jahre alt“ (S. 26).

67% der von ZV Betroffenen waren bereits in ihrer Erziehung familiärer Gewalt ausgesetzt. Hinsichtlich der Durchsetzung von ZV waren über 70% von Beschimpfungen, Erniedrigungen, Drohungen und Erpressungen betroffen. Über die Hälfte war körperlichen Angriffen ausgesetzt; 27% wurden gar mit Waffen bzw. mit Mord bedroht. 11% gaben an, mit sexueller Gewalt und Belästigung konfrontiert worden zu sein. Hauptakteur der ZV war für 80% der Vater und für 62% die Mutter. 38% nannten den erweiterten Familienkreis.

Die Mehrheit der Betroffenen befand sich zum Zeitpunkt der Beratung in einer schulischen (37%) oder in einer beruflichen (21%) Ausbildung. „Die Betroffenen, die zu Beratungsbeginn bereits zwangsverheiratet waren, gaben zu 68% an, von einem Schul- oder Ausbildungsabbruch betroffen zu sein“ (S. 40). Generell ist davon auszugehen, dass die ZV in zahlreichen Fällen zu einem Schul- oder Ausbildungsabbruch führt. Dem entspricht, dass bereits Zwangsverheiratete altersunabhängig deutlich geringer qualifiziert und häufiger arbeitslos sind. ZV ist damit eindeutig ein wesentlicher Faktor der soziokulturell eigentätig reproduzierten Bildungseinschränkung/Selbstbenachteiligung.
52% der ZV betreibenden Elternhaushalte leben von eigener Erwerbstätigkeit, 33% von Transferleistungen und Renten und 14% sowohl von Transfer- und Erwerbseinahmen. 47% sind folglich auf Transferleistungen angewiesen.

Da - wie aus kritisch-wissenschaftlicher Perspektive zu erwarten - 83% der in der Untersuchung erfassten zwangsverheiratenden Eltern der islamischen Religionsgemeinschaft angehören, war - ebenfalls erwartungsgemäß - die Erhebung des Merkmals „Religion“ im Beirat der Auftragsstudie „umstritten“ bzw. Gegenstand einer „kontroversen Diskussion“(2). A priori ausgeschlossen bzw. „wegzensiert“ wurde damit eine begründungsanalytische Betrachtung der Bestimmungsgröße „religiös-normatives Orientierungsprofil“ als kausaler Faktor für ZV. Zugelassen wurde lediglich eine Erhebung der Religionszugehörigkeit zu ausschließlich „deskriptiven Zwecken“. Eine nähere Aufklärung der einstellungs- und handlungsleitenden Bedeutung islamischer Normen für ZV war demnach explizit unerwünscht und sollte weitestgehend ausgeklammert werden. „Mit der gewählten Methode und anhand der Datenlage konnte und sollte also nicht überprüft werden“, so die Autoren der Studie, „ob und welche Zusammenhänge die Religionszugehörigkeit/Religiosität mit Zwangsverheiratung hat“ (S. 36). Dennoch läst sich am Ergebnis wenig retuschieren: 83% der in den befragten Institutionen bekannt gewordenen Fälle von ZV fanden in einem islamisch geprägten Sozialmilieu statt. 9,5% entfielen auf das Jesidentum, 3% auf ein christliches und 1% auf ein hinduistisches Herkunftsmilieu. Von 2,5% wurde „keine Religionszugehörigkeit“ angegeben.

„In der Forschung“, so behaupten die Autoren undifferenziert, übergeneralisierend, ohne nähere Angaben/Verweise und wenn, dann nur für die unkritisch-auftraggebernahe „Meinungswissenschaft“ zutreffend, „besteht Einigkeit darüber, dass sich Zwangsverheiratungen nicht auf bestimmte religiöse Traditionen zurückführen lassen, sie kommen in unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Kontexten überall auf der Welt - und auch in Europa - vor“ (S. 9).
Vor dem Hintergrund der von den Autoren selbst ermittelten erdrückenden Dominanz islamischer Akteure von ZV kann man diese Aussage nur als ärgerliches und überdies völlig untaugliches Ablenkungsmanöver klassifizieren. Zwar ist ZV zunächst tatsächlich ein strukturelles Phänomen nicht nur islamisch geprägter, sondern generell vormoderner, religiös-patriarchalisch geprägter Standesgesellschaften und Sozialmilieus. Tatsache ist aber eben auch, dass insbesondere die islamische Form einer vormodern-patriarchalischen Lebenskultur ZV impliziert und effektiv tradiert. Insofern nämlich die vormoderne Konstitution der islamischen Herrschaftskultur samt der ihr innewohnenden Normativität im Vergleich zu anderen Kulturregionen durch keine gegenmächtige Modernisierungsbewegung entscheidend aufgebrochen und abgeschliffen wurde, erweist sich die islamische Form des Patriarchalismus und der ZV als besonders zählebig, resistent und quantitativ bestimmend. Indem dieser Tatbestand immer wieder verwischt wird, laufen Studien wie die hier behandelte Gefahr, ihre eigenen Resultate in obendrein sehr unglaubwürdiger Art und Weise zu entwerten.

(November 2011)

1)  Der Studie lag folgende Definition von ZV zugrunde: „Zwangsverheiratungen liegen dann vor, wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder durch die Drohung mit einem empfindlichen Übel zum Eingehen einer formellen oder informellen (also durch eine religiöse oder soziale Zeremonie geschlossenen) Ehe gezwungen wird und mit seiner Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich zu widersetzen.“ (S. 18).

2) Betrachtet man die Namen der Beiratsmitglieder sowie der Teilnehmer/innen des wissenschaftlichen Workshops zur Studie, dann fallen sofort Personen auf, die vor einigen Jahren Necla Kelek in der ZEIT angeprangert oder Beiträge zur Zementierung des Feindbildes Islamkritik in dem entsprechenden Buch von T. Schneiders beigesteuert hatten. So Heiner Bielefeldt, Monika Schröttle, Ursula Boos.-Nünning und Birgit Rommelspacher.

 

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