Hartmut Krauss



Allahs Geschenk an Erdogan:
Der kläglich gescheiterte Militärputsch in der Türkei
als
Katalysator des reaktionären AKP-Regimes


Während Erdogan und Vertreter des AKP-Regimes behaupten, Anhänger der Gülenbewegung im Militär- und Justizapparat - also intraislamische Rivalen um Macht und Pfründe - seien die Drahtzieher des dilettantischen Putschversuchs gewesen, besagen andere Quellen, der Putsch sei der schlecht vorbereitete Versuch gewesen, einer ohnehin von Regierungsseite anberaumten größeren Verhaftungswelle zuvor zukommen. Doch dieses Unternehmen nach dem Motto „Gegenangriff ist die beste Verteidigung“ hatte keine Basis, blieb auch militärintern weitgehend ohne Unterstützung und musste deshalb zwangsläufig scheitern1. Nach vorliegenden Informationen sollen verhaftete Soldaten bei ihren Vernehmungen ausgesagt haben, sie seien von ihren Vorgesetzten zu einer „Übung“ abkommandiert worden, d.h. ihnen war gar nicht bewusst, an einem Putsch teilzunehmen. Als sie bemerkten, dass es sich nicht um eine Übung handelt, seien viele desertiert. Dennoch kamen im Rahmen der kurzen Kampfhandlungen zwischen Putschisten, Regierungstruppen und Regimeanhängern nach vorliegenden Angaben mehr als 260 Personen ums Leben.

Im Nachhinein besteht kein Zweifel darüber, dass dieser misslunge Putschversuch Erdogan und dem AKP-Regime nutzt (deshalb spricht Erdogan von einem „Gottesgeschenk“) bzw. nun zur Stabilisierung und Radikalisierung der AKP-Herrschaft instrumentalisiert wird. So dient der Putsch zum einen als Alibi für verschärfte Säuberungsmaßnahmen im gesamten Staatsapparat sowie generell für Repressionsmaßnahmen gegenüber der gesamten Opposition. Sogar die Einführung der Todesstrafe wird von der AKP-Spitze erwogen. Zum anderen befestigt die Niederschlagung des Putsches unter Beteiligung von Teilen der regimetreuen Bevölkerung, die sich „heroisch“ vor die Panzer stellten, die Bindung zwischen der reaktionären türkischen Bevölkerungsmehrheit, ihrem islamischen Duce/Führer und der Regimepartei und liefert die probaten Bilder für die typisch konservativen autoritär-nationalistischen Mythen und Heldenbilder2. Zudem feuert der rasch niedergeschlagene Putsch den orthodox-islamischen Mob zu verstärkten Aggressionen und Rachefeldzügen gegen säkulare Kräfte und Regimegegner an.

Die Legende vom demokratischen AKP-Regime

Wenn jetzt in den Medien von „Verteidigung der türkischen Demokratie“ oder „Wiederherstellung der demokratischen Ordnung“ schwadroniert wird, so widerspricht das massiv der politischen Realität. Im Grunde ist dieses schönfärberische „Wording“ nichts weiter als der nachwirkende Ausfluss bislang gültiger romantischer Zerr- und Wunschbilder (die Türkei als Musterstaat zwischen Orient und Okzident etc.) sowie gewundene Rechtfertigung für die deutsche „Partnerschaft“ mit der Türkei.

Gestützt auf eine reaktionär-traditionalistische Mehrheit innerhalb der Bevölkerung war und ist die Strategie der AKP darauf gerichtet, ein autoritär geführtes, neototalitäres Regime zu installieren, das folgende Ziele ansteuert:

1. Die konsequente Reislamisierung der türkischen Gesellschaft im Rahmen einer sukzessiven Entsäkularisierung, d.h. Beseitigung kemalistischer Regulative3 sowie die antilaizistische Wiedereinsetzung des Islam als Staatsideologie. (Beispiele: Aufhebung des Kopftuchverbots im staatlichen Bildungssystem sowie Rückkehr zum verpflichtenden Islamunterricht.) Gleichzeitig wird die glorreiche Vergangenheit des Osmanischen Reiches beschworen und zur ideologischen Grundlage eines neuen türkischen Großmachtchauvinismus ausgebaut. (Einheit von türkischem Nationalismus und orthodox-islamischer Weltanschauung als politisch-ideologische Grundlagen des neuen staatstragenden Türkentums.)

2. Im Sinne der anti-kemalistischen Restauration: Weitgehende Außerkraftsetzung der Gewaltenteilung; systematische Einschränkung der Pressefreiheit; Kriminalisierung oppositioneller Journalisten als „Spione“ und „Terroristen“; verschärfte Repression gegen oppositionelle Kräfte (Gezipark-Bewegung); zunehmende Polizeistaatsmethoden und umfassende Säuberungsaktionen im gesamten Staatsapparat. Zudem wird ein System korrupter Günstlingsbeziehungen geschaffen und der gesamte Staatsapparat mit AKP-Lakaien besetzt. Abgerundet wird der reaktionär-antidemokratische Staatsumbau durch die auf Erdogan zugeschnittene Errichtung eins autoritären Präsidialsystems, was sich auch in seinem Prunkbau im Stile osmanischer Sultane versinnbildlicht.

3. Während die AKP-Staatsführung im Inneren die Unterdrückung der kurdischen Minderheit forciert, den aus religiös-islamischen und rassistischen Gründen durchgeführten Genozid an den Armeniern ebenso hartnäckig wie aggressiv leugnet und nach Recherchen inhaftierter Reporter radikalislamische Terrorgruppen mit Waffen beliefert, fungierte die Türkei gleichzeitig als Durchgangsland, Rückzugsraum, womöglich ökonomischer Handelsplatz (Ölverkauf4) und Lazarettland für den IS. Gegenüber dem schwachen Europa, das nicht in der Lage ist, wirksam seine Außengrenzen zu schützen und entsprechend Maßnahmen im Mittelmeer durchzuführen, lässt sich Erdogan als flüchtlingspolitischer „Türsteher“ bezahlen, während er gleichzeitig deutsche Besuche auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik untersagt und damit die deutsche Regierung demütigt.

Dass diese hier nur knapp skizzierbare reaktionäre Herrschaftspolitik der AKP auf eine Mehrheit in der türkischen Bevölkerung stößt, besagt noch nichts über deren demokratischen Charakter. Auch Hitler, Mussolini und Stalin hätten jederzeit Abstimmungen mit breitester Mehrheit gewonnen; die NSDAP ging aus den letzten Reichstagswahlen im März 1933 mit 43,9 % der Stimmen als klarer Sieger hervor. Hat ein autoritär-reaktionäres bzw. popular-faschistisches Regime erst einmal den Staatsapparat erobert, weitgehend gesäubert bzw. mit eigenen Leuten besetzt, die vormodern-traditionalistische Alltagskultur mit der Staatsideologie verschmolzen (hier: Islam) und die Opposition beseitigt oder nachhaltig marginalisiert, kann es jede Wahl gewinnen. Mehrheiten im Rahmen von antidemokratischen Herrschaftsstrukturen haben nichts mit wirklicher „Demokratie“ zu tun. (Im Hinblick auf Wahlbeteiligung und numerischer Legitimation war das Mehrparteiensystem der DDR dem jetzigen „gesamtdeutschen“ Politsystem weit überlegen!)

Regimestrukturell und ideologisch hat das staatsislamische AKP-Regime folglich wenig mit „Demokratie“ zu tun, sondern weist vielmehr ausgeprägte Parallelen zum italienischen und deutschen Faschismus auf5.

Die AKP-Filiale in Deutschland: Reaktionäre Mehrheit der türkischen Muslime und ihre Herausbildung

Während in der Türkei die AKP-Anhänger bezeichnenderweise von den staatsreligiösen Minaretten zur Verteidigung Erdogans gerufen wurden (so unpolitisch ist der Islam), gingen in Deutschland mehr als 10.000 türkischstämmige Muslime unter „Allahu Akbar“- und „Erdogan“-Sprechchören auf die Straße. Dieser Sachverhalt ist insofern nicht überraschend, da ca. zwei Drittel der „friedliebenden“ türkischen Muslime in Deutschland AKP-Wähler oder Wähler der „Grauen Wölfe“ sind. Dieses ultrareaktionäre Personenpotenzial von ca. 2 Millionen Menschen, das vom AKP-Regime als „Fünfte Kolonne“ dirigiert wird und jederzeit als politische Erpressungsreserve instrumentalisierbar ist, stellt - entgegen veralteter Wahrnehmungsraster staatsnaher Institutionen - objektiv die größte „Rechtsgefahr“ in Deutschland dar.

Die Ursache für diese Ansammlung eines mehrheitlich reaktionären türkischstämmigen Personenpotenzials ist das auf Druck der USA zustande gekommene Anwerbeabkommen mit der Türkei: „Zunächst hatte die christdemokratisch geführte Adenauer-Regierung die Anwerbung von Arbeitskräften nur auf europäische Länder ausgerichtet und die Türkei gar nicht im Blick gehabt. Erst als die Türkei in der damals zugespitzten Phase des Kalten Krieges mit dem eifersüchtigen Argument intervenierte, man wolle als NATO-Land nicht diskriminiert und mit Griechenland gleichbehandelt werden, wurde 1961 auch ein Anwerbeabkommen mit der Türkei vereinbart. Die Initiative zur Einwanderung von Türken nach Deutschland ging also in diesem konkreten Fall nicht von Westdeutschland, sondern von der Türkei aus. Im Endergebnis bildeten Anfang der 1970er Jahre Arbeitsmigranten aus der Türkei (605.000), dem damaligen Jugoslawien (535.000) und aus Italien (450.000) die größten Gruppen. (…)

Das Anwerbeabkommen lag demnach viel mehr im Interesse der Türkei als es deutschen Interessen entsprach, da Westdeutschland ja durchaus auf Arbeitskräfte aus zahlreichen anderen, kulturell-religiös weniger differenten Ländern hätte zurückgreifen können. Im Einzelnen ging es dem türkischen Staat um folgende Interessen: Da zwischen 1955 und 1975 die Bevölkerungszahl von 24 auf 40 Millionen gestiegen war - was einem Wachstum von 2,4% jährlich entsprach - hatte (und hat) der türkische Staat ein großes Eigeninteresse an der Auslagerung eines Teils seiner Überbevölkerung. Damit profitierte er zum einen unmittelbar durch die Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes und zum anderen zusätzlich durch Deviseneinahmen (Geldüberweisungen der Arbeitsmigranten in die Heimat) sowie durch Gratismodernisierung in Form reimportierter Qualifikationen.

(…) Nachdem das Kapital - gestützt auf die willfährige Politik - die „Gastarbeiter“ kurzfristig profitabel als „Konjunkturpuffer“ ausgenutzt hatte, sollte fortan die Gesamtgesellschaft - ohne dass vorher eine demokratische Grundsatzdebatte geführt worden war - für die Folgekosten der akkumulierten Massenzuwanderung aufkommen. Dabei erwiesen sich der nun dominante Familiennachzug und insbesondere der Import von „arrangierten“ Ehepartnern als primäre Quelle der ungesteuerten Zuwanderung von Geringqualifizierten mit einem für das Leben in einer westlich-spätkapitalistischen Gesellschaft „sperrigen“ Sozialisationsprofil. Hinzu kam, dass in diesem vormodernen Kontext die Übersiedlungsmöglichkeit nach Deutschland mit seinem Sozialtransfersystem zum festen Bestandteil des Brautpreises bzw. zum Lockangebot gehört(e) und wohl mit den wichtigsten Bleibegrund darstellt.

Vor diesem Hintergrund entstanden in den ehemaligen Arbeiterbezirken der deutschen Großstädte relativ rasch Zuwandererghettos, in deren tendenziell geschlossenen Sozialräumen sich oftmals sukzessive ein türkisch-muslimischer Kulturimport abspielte. So kam es zum Aufbau eines selbstgenügsamen Netzwerkes von Einrichtungen, die es den Einwanderern gestatten, ihre alltäglichen Lebensvollzüge so weit wie möglich ohne Kontakte mit der einheimischen Gesellschaft zu realisieren.“6

Die deutsche Gesellschaft ist somit seither immer unmittelbar mitbetroffen von den Entwicklungsprozessen in der Türkei.

(18.07.2016)

1 Militärisches Eingreifen zum Sturz reaktionär-repressiver Regime muss nicht zwangsläufig negativ sein, sondern kann auch den Durchbruch zu progressiven Entwicklungen ermöglichen (Beispiel: portugiesische „Nelkenrevolution“) oder ein „kleineres Übel“ darstellen (Beispiel: Absetzung der ägyptischen Muslimbruderschaft mit starker Massenunterstützung für das Militär). Andererseits ist auch an die Beteiligung „demokratischer Westmächte“ an der Installierung von repressiven Militärdiktaturen zu erinnern: die USA und die Absetzung der Allende-Regierung in Chile 1973.

2. Überliefert wird Folgendes: „Hier die Armee, hier der Kommandant“, skandiert die Menge. Oder: „Sag es, und wir töten, sag es, und wir sterben.“ Und immer wieder: „Allahu akbar!“ - „Gott ist groß!“

http://www.welt.de/politik/ausland/article157099773/Fuer-Erdogan-ist-der-Putsch-ein-Geschenk-Allahs.html

3 Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die kemalistischen „Reformen von oben“ keine umfassende, tiefe und nachhaltige Katharsis an der Basis der traditionell-islamischen Alltagskultur bewirkt haben. „Eine Säkularisierung im Sinne einer ‚aufgeklärten‘, privatisierten Religionspraxis europäischen Stils konnte hier nicht stattfinden. Zum einen fehlten die kulturellen Voraussetzungen, und zum anderen hätte jede Form von Toleranz die Dominanz des Türkischen gefährdet.“ (H.-P. Raddatz: Die türkische Gefahr 2004 S. 101).

5 Bezeichnenderweise hatte Erdogan bei der Verteidigung seines Präsidialprojekts Folgendes gesagt: „Es gibt aktuell Beispiele in der Welt und auch Beispiele in der Vergangenheit. Wenn Sie an Hitler-Deutschland denken, haben Sie eines. In anderen Staaten werden Sie ähnliche Beispiele finden.“ (http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-nennt-hitler-deutschland-als-beispiel-fuer-praesidialsystem-a-1070162.html)

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